Früher, in den Anfängen des Internets, träumten die Pioniere des Digitalzeitalters davon, dass ein weltumspannendes Netz zu Frieden, Liebe und Völkerverständigung führen würde. Wenn nur endlich alle Menschen miteinander kommunizieren könnten, alle öffentlichen Informationen für alle zugänglich wären, würden sich Missverständnisse und Machtmissbrauch wie von selbst auflösen. Leider kam es anders: Die Realität nach gut 20 Jahren massenweiser Netznutzung ist eher düster. Statt der erhofften Blumenwiese voller dezentraler Kommunikationsformen leben wir heute in einer Welt, in der der öffentliche Diskurs auf den Systemen einer Handvoll Tech-Konzerne stattfindet. Die traditionellen Meinungsmacher hecheln ih
ihnen meist hinterher, konstruktive öffentliche Debatten sind kaum noch möglich.Der Geschäftszweck der als „Social Media“ verbrämten Werbeplattformen ist es, unsere Daten und unsere Aufmerksamkeit gewinnbringend anderen Firmen zur Verfügung zu stellen, die uns manipulieren wollen. Wir sollen deren Produkte kaufen oder politische Entscheidungen in ihrem Sinne treffen. Landläufig nennen wir dieses System verharmlosend „gezielte Werbung“. Damit wir möglichst lange und oft auf den Plattformen verweilen, wird mit fortgeschrittenen Manipulationstricks gearbeitet. Alles, was zu großer Erregung führt, ist dafür gut: Aufgebrachte und emotionalisierte Menschen klicken mehr, hinterlassen mehr Daten, bleiben länger auf der Plattform – und sehen mehr Werbung. Der Brexit, die Wahl Donald Trumps und der Aufstieg rassistischer Parteien in Europa fallen nicht zufällig mit der Perfektionierung dieser Mechanismen zusammen. Immerhin: Die Auswirkungen führten endlich zu einer Diskussion über Hass und Hetze im Netz.Die Reaktion der Bundesregierung in Gestalt des immer noch amtierenden Justizministers Heiko Maas auf die Situation war so unqualifiziert wie viele andere Gesetze der letzten Legislaturperiode: Er gab den Werbeplattform-Konzernen mit dem „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ (NetzDG) noch mehr Macht. Statt die überfällige Ertüchtigung des Rechtsstaats für das Digitalzeitalter einzuleiten und ernsthaft über die Regulierung von manipulativen Geschäftsmodellen zu reden, machte man den Bock zum Gärtner. Und es geht um nicht wenig: Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Pressefreiheit und die Kunstfreiheit sind unmittelbar betroffen. Dass gerade das Satiremagazin Titanic gleich zu Beginn vom NetzDG-Bannstrahl getroffen wurde, macht deutlich, welche Dimension das Problem hat.Das Gesetz fiel zusammen mit einer eigenen Lösch- und Sperr-Offensive der Werbeplattformen gegen Nutzer, die sich durch Hetze und Aufrufe zur Gewalt hervorgetan haben. Die AfD-Protagonisten mit ihrem Hass auf alles Fremde traf es überproportional oft, schon bevor das NetzDG in Kraft trat. Dass die Plattformen hier aus Überzeugung im Sinne des zivilisierten Diskurses gehandelt haben, ist eher unwahrscheinlich, wie man an der Trump-Ausnahme sieht. Der US-Präsident darf weiter auf Twitter Hass säen und Gewalt androhen – er hat schließlich einen „sehr hohen Nachrichtenwert“. AfD-Politiker spielen offenbar nicht in dieser Liga.Die ersten Tage der Privatisierung des Rechtsstaates im Bereich Äußerungen im Internet verliefen etwa wie von den Kritikern des NetzDG erwartet. Nutzer aus dem gesamten politischen Spektrum klickten sich die Finger wund und meldeten massenweise Tweets und Posts ihrer jeweiligen Gegner als löschbedürftig. Speziell auf Twitter wird die Meldung nach NetzDG gern als Ersatz für den auf dieser Plattform fehlenden „Dislike“-Button genutzt – ein „Daumen runter“ mit dem Potenzial, den missliebigen Inhalt aus dem Netz verschwinden zu lassen.Nur bei einer Minderzahl der Meldungen handelte es sich offenbar um „offensichtlich rechtswidrige“ Tatbestände, die das Gesetz verlangt. Zumindest, wenn man den Entscheidungen der Werbeplattform-Hilfsarbeiter folgt, die über die eingehenden Meldungen richten. Trotzdem zeigen viele der ersten Beispiele den befürchteten Trend zum „Overblocking“ genannten leichtfertigen Löschen. Die Plattformen haben einen starken Anreiz, lieber zu viel als zu wenig zu löschen, um die kurzen Fristen einzuhalten und den angedrohten Bußgeldern zu entgehen.De facto wird die Entscheidung, welche Inhalte hier publiziert und debattiert werden können, US-amerikanischen Firmen überlassen, die gänzlich andere Interessen als die deutsche und europäische Gesellschaft haben. Das NetzDG zementiert ihr Geschäftsmodell, mächtige Instrumente zur Manipulation an den Höchstbietenden zu verkaufen.Denn was der Gesetzgeber nicht in Angriff nahm, sind harte Transparenzpflichten, die eine Offenlegung der exakten Kriterien für Löschungen und Accountsperren vorschreiben. Ein noch wichtigeres, geradezu verheerendes Versäumnis ist, dass es immer noch keinen Zwang zur öffentlichen Dokumentation der Details von Kampagnen auf Facebook & Co. gibt. Solange nicht sofort für jeden nachvollziehbar ist, welche bezahlten Inhalte nach welchen demografischen Zielkriterien wann wie vielen Nutzern angezeigt wurden und von wem das Geld dafür kam, geht die Zerstörung der politischen Handlungsfähigkeit unser Gesellschaften immer weiter.