Zwar ist der „Brexit“ formal inzwischen vollzogen, bei den Verhandlungen über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen EU und Großbritannien droht jedoch immer noch ein ungeregelter Austritt aus dem (noch) gemeinsamen Wirtschaftsraum. Grund genug, das mentale Verhältnis zwischen Europa und den Briten – so muss man das wohl wieder trennen – zu beleuchten und manche Verschrobenheit des Inselvolks zu hinterfragen. Damit ist die Frage nach der Relevanz von Peter Bialobrzeskis neuestem Buch zumindest zur Hälfte schon beantwortet, denn in Give my Regards to Elizabeth liefert er einen profunden Einblick in britische Lebenswelten. Sein Zugang ist der des teilnehmenden Beobachters, der nichts inszeniert, sondern seine Motive auf der Straße, im Pub oder auf der Rennbahn findet.
„Neuestes Buch“ stimmt nur zum Teil; zwar ist es frisch erschienen, die Bilder sind jedoch knapp 30 Jahre alt. 1991/92 verbrachte Bialobrzeski, Fotografiestudent an der Essener Folkwangschule, ein Auslandsjahr am London College of Printing und fotografierte für seine Diplomarbeit. Das Buch ist ein werktreues Faksimile des in Handarbeit hergestellten Einzelexemplars.
Inzwischen ist Bialobrzeski ein bekannter Fotograf mit einem reichhaltigen Œuvre, unterrichtet an der Hochschule der Künste Bremen und prägt den Fotografennachwuchs. Bekannt wurde er mit seinen Fotobüchern, in denen er über die Globalisierung, wie sie sich in den asiatischen Mega-Citys darstellt, erzählt. Menschen, wenn sie überhaupt vorkommen, wirken hier oft wie Fremdkörper. Das war in seiner Diplomarbeit noch ganz anders; hier ist Bialobrzeski dicht dran an seinen Protagonisten, die er in teils gewagten Anschnitten beobachtet und porträtiert. Dieser Bogen von der klassischen Straßenfotografie der Anfänge hin zu seinen heutigen, streng komponierten Tableaus steht nicht nur für persönliche Entwicklungen, sondern repräsentiert auch Tendenzen in der Fotografie der letzten 30 Jahre, sodass das Buch auch fotohistorische Bedeutung hat.
Der Autor dieser Zeilen teilt mit Bialobrzeski die Erfahrung eines Studienaufenthaltes in England in den 1990ern. Manche Dinge scheinen wir ähnlich empfunden zu haben; besonders das permanente Changieren zwischen Befremden und Faszination beim Betrachten der englischen Gesellschaft eint uns. Mir ging jedenfalls die Freudlosigkeit und Kälte des gnadenlosen Kapitalismus englischer Prägung bald aufs Gemüt, und auch Bialobrzeski schreibt im Vorwort von seiner Erleichterung, nach Deutschland zurückzukehren – in eine Gesellschaft, die „weniger klassenbewusst ist und mehr Empathie für den Einzelnen an den Tag legt“.
Das Fernsehen ist exzellent
Verbringt man längere Zeit im Königreich, registriert man bald einige Eigenarten: ein ausgeprägtes paternalistisches Staatsverständnis, verbunden mit einem bevormundenden Sozialsystem (man schaue sich Ken Loachs Film Ich, Daniel Blake an) sowie der Besessenheit für Vorschriften und Regeln, Schilder und Verbote – was umso grotesker erscheint, als die Briten traditionell spöttisch auf die so „obrigkeitshörigen“ Deutschen blicken. Dass es schwer ist, mit Einheimischen ein lebendiges, ungehemmtes Gespräch zu führen, fällt dem Kontaktsuchenden rasch auf. Die vermeintliche Kunst des formelhaften Smalltalks (Wetter!) bemäntelt häufig die Unfähigkeit zu wahrhaftiger, unmittelbarer Kommunikation. Der Außenstehende leidet häufig unter einer gewissen Selbstgenügsamkeit der Insulaner, die am liebsten unter sich bleiben, was angesichts der Fakten schaffenden Einwanderungswellen der letzten 20 Jahre heute nicht mehr ganz so ausgeprägt sein mag.
Auf der anderen Seite finden die gesellschaftspolitischen Debatten im Königreich trotz oder gerade wegen der scharfen sozialen Gegensätze auf beispielhaft hohem Niveau statt, was sich am deutlichsten in den erfrischend kontroversen Debatten im Parlament offenbart. Die Eigenarten der Briten haben eine Kehrseite, welche die Außenwahrnehmung Großbritanniens mindestens ebenso nachhaltig prägt: einen hoch entwickelten politischen Diskurs, verbunden mit kritischem, investigativem Journalismus. Eine Populärkultur, die weltweit Maßstäbe setzt in Musik, Film, Architektur. Oder auch ein Fernsehprogramm, das keine tagtägliche Beleidigung für durchschnittlich intelligente Zuschauer ist – nie habe ich so viel und mit Interesse ferngesehen wie in meiner Zeit in England. Die oben skizzierte Zwanghaftigkeit im Umgang miteinander hat womöglich ihre Kompensation in der Fähigkeit der Insulaner zur (Selbst-) Ironie und ihrem ausgeprägten Humorverständnis gefunden, welches die Grenzen der Political Correctness stets lustvoll überschreitet.
Vieles, was der Besucher auf der Insel registriert, findet sich in Bialobrzeskis Bildern angedeutet: das berühmte Komasaufen kurz vor der Sperrstunde, das schrille Gebaren vieler junger Frauen, die selbst im Winter spärlich gekleidet umherlaufen, oder die Anspruchslosigkeit bei der Nahrungsaufnahme. Was ihn jedoch wirklich interessiert, sind die sozialen Widersprüche, die auch Anfang der 1990er die Gesellschaft zu zerreißen drohten. Es gibt wohl kein Land in Europa, in dem die sozialen Schichten so scharf voneinander getrennt sind und gleichzeitig die eigene Klassenzugehörigkeit derart obsessiv zelebriert wird.
Der Stolz auf die Herkunft aus der Arbeiterklasse trifft nahtlos auf den Dünkel der Mittel- und Oberschicht – dazwischen gibt es nicht viel. Auch auf den Bildern im Buch ist stets auf den ersten Blick erkennbar, welchem sozialen Milieu die Abgebildeten entstammen. Das mag den jungen (West-) Deutschen, aus einem Land kommend, in dem soziale Marktwirtschaft zumindest bis zur Wiedervereinigung bedeutete, den Ausgleich der Interessen zu suchen und meist auch zu finden, nachhaltig irritiert haben. Was wir im neoliberalisierten Europa von heute immer noch mit einigem Befremden zur Kenntnis nehmen – nämlich die soziale Determination durch Herkunft –, ist in Bialobrzeskis Bildern aus dem Thatcher-England schon lange eine Realität, die sich in Habitus und Abgrenzung zum anderen Milieu deutlich widerspiegelt. In ihren Freizeitritualen findet die jeweilige Klasse zu sich – Bingo und „cheap thrills“ für die Armen, Pferderennen für die sich als gesellschaftliche Elite verstehende Oberschicht. Zusammengehalten werden die divergierenden Einheiten durch den monarchistischen Kitsch und nationalen Pomp. Peter Bialobrzeski sollte die Elizabeth seines Titels bald wieder einmal besuchen.
Give my Regards to Elizabeth Peter Bialobrzeski Hartmann Books 2020, 96 S., 34 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.