Lockdown-Zeiten sind schwierige Zeiten für einen Filmkritiker. Zwangspausierend sitzt er zu Hause und muss zusehen, wie ein Starttermin nach dem nächsten abgesagt wird. Je länger die Kinos geschlossen bleiben, desto mehr stapeln sich die ungeschriebenen Rezensionen von Filmen, die wohl ungesehen bleiben.
Anstatt ins Kino zu gehen, durchforstet der Filmhungrige indes die Mediatheken und Online-Plattformen. Ein auch beim wiederholten Sichten beeindruckendes filmisches Ereignis und Anstoß für diesen Text war dabei die Wiederbegegnung mit Michael Winterbottoms erster Regiearbeit, dem BBC-Vierteiler Family von 1994. Die von dem irischen Autor Roddy Doyle geschriebene Miniserie dreht sich um eine Arbeiterfamilie in Dublin, deren prekäre Lebensumstände in einer t
#228;nde in einer tristen Sozialsiedlung schnörkellos und mit eindrucksvoller Wahrhaftigkeit erzählt werden. Jede der vier Folgen ist aus der Sicht eines anderen Familienmitglieds erzählt, sodass im Ganzen eine exemplarische Bestandsaufnahme des Lebens im unteren Drittel der Gesellschaft entsteht.Quasi dokumentarischDie Melange aus sozialer Randständigkeit, Arbeitslosigkeit, (häuslicher) Gewalt und Kleinkriminalität schildert Family in bemerkenswerter Nüchternheit, ohne Betroffenheitspathos oder seine Protagonisten zu denunzieren. In seiner präzisen, quasi-dokumentarischen Annäherung an die Verhältnisse, in denen ein Großteil der Zuschauer sich nach den vielen Jahren des sozialen Abstiegs in der Ära der Deregulierungen und Privatisierungen selbst wiederfinden konnte, war Family ein aufsehenerregendes Format und ein Vorreiter des New British Cinema der folgenden Jahre. Eine neue Generation von Filmemachern schuf in den 1990ern eine Welle von Filmen, die sich der Beschreibung der harschen sozialen Realität im Land verschrieben, ohne deshalb zu grauen Sozialstudien zu entgleiten. Im Gegenteil waren Filme wie Ganz oder gar nicht (1997), Brassed Off (1996) oder Billy Elliott (2000) nicht nur beim Publikum, sondern auch kommerziell enorm erfolgreich.Eine vergleichbare Welle an wirklichkeitsnahen Filmen hat es nach der Wiedervereinigung in Deutschland nie gegeben, obwohl die Verwerfungen in der Gesellschaft, vor allem in den „Neuen Ländern“, sich durchaus angeboten hätten, kritisch reflektiert zu werden. Es gab Wolfgang Beckers Das Leben ist eine Baustelle (1997), der die Post-Vereinigungs-Depression recht gut einfing, oder seinen sehr erfolgreichen DDR-Abgesang Good Bye, Lenin! (2003); aber berühmt-berüchtigt war der deutsche Film im selben Zeitraum, als die Briten den sozialen Realismus wieder einmal neu entdeckten, eher für Komödien à la Der bewegte Mann (1994), Werner – Das muss kesseln!!! (1996) oder Go, Trabi, Go (1991).Auch aus dem ersten Jahrzehnt im neuen Jahrtausend, welches innenpolitisch geprägt war vom sozialpolitischen Rückschritt der Agenda 2010 und dem dadurch entstehenden Niedriglohnsektor, sind nur wenige Filme erinnerlich, die der saturierten Mehrheitsgesellschaft einen Spiegel vorgehalten und das Phänomen einer neuen „Unterschicht“ reflektiert hätten. Zu nennen wäre Robert Thalheims Debütfilm Netto (2005), in dem Milan Peschel den arbeitslosen Marcel verkörperte, der nichts auf die Reihe kriegt.Warum, fragt sich der Interessierte, fällt es dem deutschen Film eigentlich oft so schwer, authentische, glaubwürdige Figuren und Stoffe zu kreieren, mit denen sich der Zuschauer identifizieren kann und in denen er seine Lebensrealität gespiegelt sieht? Um dem Einwand gleich zuvorzukommen: Zu jeder Zeit hat es im deutschen Film auch respektable und wichtige Ansätze gegeben, sich der Realität im Land ernsthaft und filmisch gelungen zu nähern. Man denke an Andreas Dresen, dessen Versuche, von der Lebenswirklichkeit im deutschen Osten zu erzählen, zu künstlerisch aufregenden Filmen führten, die auch vom Publikum angenommen und geliebt wurden. Seine Suche nach absoluter Authentizität des Erzählens gipfelte in Filmen wie Halbe Treppe, der ohne Drehbuch und nur mit einem groben Handlungsgerüst versehen war. Das verlangte den Schauspielern höchste Improvisierkunst ab, beließ ihnen dafür jedoch ihre lebendige Alltagssprache. Mit seiner andauernden Suche nach Wahrhaftigkeit und Authentizität ist Dresen jedoch ein Solitär in der Filmlandschaft.Placeholder image-1Auch wenn der deutsche Film besser ist als sein Ruf, gehört zur Wahrheit auch, dass die aufregendsten Filme häufig Nischenproduktionen sind, die kein großes Publikum außerhalb diverser Festivals erreichen. Was sich aber leider nie wirklich ändert, ist die fehlende Lebensnähe vieler Protagonisten sowie die mangelnde Sichtbarkeit prekärer und anderweitig randständiger Milieus.In der Regel stammen die handelnden Figuren in den größeren Produktionen aus der wohlsituierten Mittelschicht, wohnen in geräumigen Lofts in Prenzlauer Berg oder der westdeutschen Provinz. Sie haben dementsprechende Probleme. Prototypisch dafür mag Lars Eidinger stehen, der gerne für Rollen gebucht wird, in denen gut betuchte Menschen ihre Beziehungsdramen in der Familienvilla aufarbeiten, so aktuell in Schwesterlein (2020) oder All my Loving (2019) und Familienfest (2015). Maßgeblich für das gegenwärtige Filmschaffen und vom Feuilleton geliebt sind auch die artifiziellen Arrangements von Christian Petzold, der sich inzwischen lieber in der deutschen Sagenwelt verheddert, als alltagsnahes Kino zu machen. Die mangelnde Diversität im deutschen Film ist vergangene Woche erst in dem aufsehenerregenden Manifest von 185 Schauspieler*innen beklagt worden, die mit der Initiative #actout die längst fällige Debatte anstoßen wollen.Die das System sprengenFreilich gibt es, wie für jede These, immer auch Gegenbeispiele, wie Nora Fingscheidts Sozialdrama Systemsprenger (2019), das mit Filmpreisen geradezu überhäuft wurde. Solcherart Filme sind jedoch Schlaglichter, die mitnichten das deutsche Filmschaffen repräsentieren. Die große Aufmerksamkeit, die er erhielt, liegt eben auch darin begründet, dass Filme mit Protagonisten aus dem Erdgeschoss der Gesellschaft nicht häufig zu finden sind. Gelungene sozialrealistische Alltagsstudien wie Kokon (2020) von Leonie Krippendorff über drei pubertierende Mädchen aus einem Sozialwohnungsblock am Berliner Kottbusser Tor sind bei an die 150 deutschen Spielfilmen, die pro Jahr im Kino starten, nur die Ausnahme der Regel.Vom Fernsehen erwartet man ja schon lange keine realistische Widerspiegelung der Verhältnisse mehr, aber auch im Kino scheint es unendlich schwer, durchschnittliche, normale Charaktere, unter denen auch mal Angestellte oder Fabrikarbeiter sind, authentisch auf die Leinwand zu bringen. Das anschaulichste Beispiel für das Scheitern eines gut gemeinten Films über sogenannte kleine Leute beziehungsweise darüber, wie empathiewillige Intellektuelle sich diese vorstellen, ist sicherlich In den Gängen (2018) von Thomas Stuber. Der Film enttäuschte umso mehr, weil die Geschichte aus dem ostdeutschen Milieu eines Großmarktes eine großartige Vorlage hätte sein können, um über Liebe und Arbeit in Zeiten des Neoliberalismus zu erzählen. Stattdessen sah man ein rührselig-sentimentales Melodrama mit Figuren wie aus der Zeit gefallen. Dass der Film trotz seiner Lebensferne auf viel Sympathie stieß, kann eigentlich nur mit der geringen Anspruchshaltung des Publikums erklärt werden, die entsteht, wenn man ihm jahrelang Stoffe vorsetzt, die mit der eigenen Lebenswirklichkeit nichts zu tun haben. Irgendwann erwartet man diese auch nicht mehr.Wo aber sollen angesichts der Fragmentierung einer Gesellschaft, in der jedes Milieu sich in seiner eigenen kleinen Blase bewegt, die lebendigen, alltagsnahen Figuren/Stoffe herkommen? Es ist schon ein merkwürdiges Phänomen, dass die Ausbildungsmöglichkeiten für den Filmnachwuchs in Deutschland reich gesät sind und jedes Jahr zahlreiche Talente auf den Markt drängen, es aber trotzdem an Filmen mangelt, die sich mit Empathie und dem Gespür für Authentizität den sozialen Gegebenheiten oder Friktionen im eigenen Land widmen.Das mag damit zu tun haben, dass die meisten Regisseure, Drehbuchautoren, Schauspieler etc. diese Friktionen nicht aus eigener Anschauung kennen, da sie in der Regel aus gut gepolsterten Mittelschichtsmilieus stammen. Von den meisten Filmemachern hat kaum einer je eine Fabrik von innen gesehen, an einer Supermarktkasse oder vor einer Sachbearbeiterin im Jobcenter gesessen, denn in der Regel stammen sie aus einem Umfeld, in dem solches nicht vorgesehen ist. Ein Kunststudium erfordert heute beträchtliche finanzielle Mittel, und die mangelnde Chancengerechtigkeit, die dem deutschen Bildungssystem regelmäßig attestiert wird, macht vor den Filmhochschulen nicht halt.Letztlich spiegelt sich in der Homogenität der Filmfiguren das Werte-Normativ einer Klassengesellschaft, in der die Wahrnehmung auf die eigene Schicht verengt und die Chancen auf Repräsentation höchst ungleich verteilt sind. Ein Grund für die oft lebensfremde, stereotype Figurenzeichnung und das Fehlen einer erzählerischen „Street Credibility“ ist die Lebenslüge der Berliner Republik, wir lebten immer noch in einer weitgehend nivellierten Mittelschichtsgesellschaft mit ein paar, nun ja, Ausfransungen nach oben und unten. Dass das schon lange nicht mehr stimmt, kann jeder aufmerksame Beobachter der sozialen Realität in diesem Lande sehen. Nur leider kaum im Kino.Placeholder infobox-1
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