Hitze, Kotti, Pubertät

Film In „Kokon“ geht es um mehr als nur Coming of Age – Leonie Krippendorff macht Mut, sich nicht anzupassen
Ausgabe 33/2020

Aufklärungsgespräche mit den pubertierenden Kindern müssen früher eine Qual gewesen sein, angefüllt mit Befangenheit, Drucksen, Kichern, Verlegenheit ... Doch diese Zeiten sind vorbei. Von der älteren Schwester gefragt, ob sie angesichts ihrer ersten Regelblutung Fragen habe, antwortet die 14-jährige Nora: „Nö, hab Tutorials geguckt.“

„Tutorials“ – das sind Ratgeberfilmchen bei Youtube, wo sich junge Menschen heute ihre Informationen holen. Das bewahrt die Generation Internet trotz aller Medienkompetenz jedoch nicht vor den in diesem Alter üblichen Berg-und-Tal-Fahrten der Gefühle, der Unsicherheit dem eigenen Körper und dessen Veränderungen gegenüber. Was wiederum beruhigend ist – alles kann dieses Internet eben doch nicht ersetzen, sosehr es auch Orientierungshilfe geben mag. Überhaupt bietet Kokon einen lehrreichen Einblick in die Lebens- und Gefühlswelt von Jugendlichen, wobei auch hier zu konstatieren ist, dass sich jene gar nicht so sehr von denen ihrer Eltern unterscheiden, als die jung waren, trotz Smartphone und „sozialer“ Medien.

Es ist Sommer am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, 37 Grad. Nicht nur wegen der extremen Hitze – an die sich die junge Generation schon mal gewöhnen sollte – ist er für Nora ein besonderer Sommer. Etwas verändert sich in ihr, geschieht mit ihr, lässt sie ihr Umfeld und die Menschen um sie herum anders ansehen.

Beim „Fingerkloppe“-Spielen mit den gleichaltrigen Jungs hat sie sich ihre Hand verletzt, kann deshalb nicht mit auf Klassenfahrt fahren und muss die Zeit währenddessen in der Klasse ihrer drei Jahre älteren Schwester verbringen. Diese ist schwer genervt davon, Nora im Schlepptau zu haben, und lässt sie das deutlich spüren. So geht Nora nach der Schule ihrer eigenen Wege und freundet sich mit Romy (Jella Haase) an, die in dieselbe Klasse geht und schon mal sitzen geblieben ist. Überhaupt wirkt Romy auf die zarte, stille Nora wie ein Naturereignis, so wild, ungebunden und frei im Geiste und im Handeln erscheint sie. Mit einem feinen Radar für zwischenmenschliche Schwingungen ausgerüstet, beobachtet Nora, wie sich die enge Welt der Kindheit weitet und unbekannte Gefühle sich ihrer bemächtigen. „Ich finde andere Mädchen manchmal so schön“, gesteht sie der Vertrauenslehrerin, „ich glaub, dass ich sie irgendwie anders anschaue, mehr so, wie ein Junge sie anschauen würde.“

Mal wieder: die erste Liebe

Es geht also um die Häutungen in der Pubertät, um sexuelles Erwachen, erste Liebe und das Entdecken des gleichen Geschlechts als Resonanzraum für die eigenen Gefühle – ein klassischer Coming-of-Age-Film. Die Erzählmuster und die dramaturgische Struktur des Films wirken vertraut, das Genre erfindet Kokon nicht neu, sondern bedient seine gängigen Konventionen.

Die Tatsache, dass der geübte Zuschauer den Film gleich in der entsprechenden Schublade einordnen kann, sollte ihn jedoch nicht dazu verführen, ihn gering zu schätzen. Zielgruppe sind ja nicht die Erwachsenen, die schon alles kennen und gesehen haben. Nicht umsonst lief Kokon mit großem Erfolg als Eröffnungsfilm der Sektion Generation 14plus auf der diesjährigen Berlinale. Für diese Altersgruppe ist er gemacht, und den Jugendlichen, die ihn sehen, ist es völlig egal, ob Genreklischees bedient werden oder das Bemühen um neue Erzählweisen im Vordergrund steht.

Für sie ist wichtig, ob der Film glaubhaft ihre Erfahrungen widerspiegelt, und hier kann Kokon eindeutig punkten. Man erinnere sich an Bettina Blümners legendäre Pubertätsstudie Prinzessinnenbad („Ich komm aus Kreuzberg, du Muschi“) aus dem Jahr 2007, die drei 15-jährige Mädchen aus der Gegend um das Kottbusser Tor porträtierte. Dieser Dokumentarfilm war ganz offenkundig Vorbild für Regisseurin Leonie Krippendorff, die 2016 ihr Studium an der HFF in Potsdam-Babelsberg abschloss. Nach ihrem Abschlussfilm Looping, in dem Jella Haase bereits ebenfalls eine der Hauptrollen spielte, ist Kokon Krippendorffs erster „richtiger“ Film, und es erstaunt, mit welcher Präzision und Leichtigkeit sie ihren Figuren eine Street Credibility verleiht, die den Film zu einer ähnlich intensiven Milieustudie – nur dieses Mal als Spielfilm – wie Prinzessinnenbad werden lässt. Das macht Kokon unbedingt auch für Menschen sehenswert, die den Nöten und Wirrungen der Pubertät längst entwachsen sind.

Ein glückliches Händchen bewies Krippendorff bei der Wahl ihrer Hauptdarstellerinnen. Jella Haase, die durch die klamaukigen Fack-ju-Göhte-Filme einem breiten Publikum bekannt wurde, ist längst zu einer ernsthaften Charakterdarstellerin gereift, was sie auch in dem vor wenigen Wochen im Kino angelaufenen, großartigen Film Berlin Alexanderplatz (der Freitag 28/2020) beweisen darf, wo sie die Mieze spielt. Die Hauptfigur Nora, gespielt von der zur Drehzeit 18-jährigen Lena Urzendowsky, strahlt etwas Ätherisches aus, eine Zartheit und Verletzlichkeit, die Gefühle auslöst, dass man sie in den Arm nehmen und durch die Unbilden des Erwachsenwerdens geleiten möchte. Das Milieu rund um den „Kotti“ ist ja bekanntermaßen ein raues; der Kontrast dazu verleiht Noras Alltag und ihren Nöten eine ganz besondere Intensität.

Kokon thematisiert das Anderssein in einem sozialen Umfeld, in dem sich fast alles um das Aussehen und die Selbstdarstellung in den sozialen Medien dreht. Der Film möchte Mut machen, dem Konformitätsdruck zu widerstehen und sich dennoch zu behaupten. Am Ende werden die Raupen, die Nora in ihrem früheren Leben – vor diesem Sommer – in einem Einweckglas gesammelt hat, zu farbenprächtigen Faltern geworden und aus dem Kinderzimmer entflogen sein. Auch dies ein Klischee, gewiss, aber eines, dem man gerne folgt.

Info

Kokon Leonie Krippendorff Deutschland 2020, 95 Minuten

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