Im Kaff

Fotografie Eine Müdigkeit liegt über dem Land: Ute und Werner Mahler fragen in ihrem Langzeitprojekt nach dem Wesen der Kleinstadt
Ausgabe 03/2019

Erinnert sich noch jemand? Vor etwa zehn, 15 Jahren waren die Schrumpfenden Städte der große Hit im akademischen und künstlerischen Diskurs. Darin untersuchten Wissenschaftler, Architekten und Künstler Schrumpfungsprozesse in großen Ballungsräumen. Man nahm an, dass die Wachstumsepoche seit der Industrialisierung zu Ende gegangen sei und die demografische Entwicklung zu weiter schrumpfenden Großstädten führen würde. Was für ein Irrtum! Ebenso wie sämtliche Prognosen über das Aussterben der Deutschen, mit denen alle Rentenkürzungen begründet wurden, hat sich auch die Voraussage eines dramatischen Bevölkerungsrückgangs in den großen Ballungsräumen als ausgesprochener Humbug erwiesen. Die Metropolen boomen. Großstädte wie Berlin, München oder Hamburg ächzen unter ihren Wachstumsschmerzen und den explodierenden Wohnkosten. In Berlin ist es heute kaum mehr vorstellbar, dass noch vor zehn Jahren viel Geld für den Rückbau von leerstehenden Plattenbauten ausgegeben wurde.

Diese Entwicklung hat freilich eine erhebliche Kehrseite, nämlich das Ausbluten der Klein- und Mittelstädte, von den Dörfern mal gar nicht zu reden. Der Boom geht einher mit der stetigen und zunehmenden Verödung des ländlichen Raumes – logisch, irgendwoher müssen die Menschen, die in die große Stadt ziehen, ja kommen. Der heutige Diskurs dreht sich deshalb eher darum, ob die Entleerung der großstadtfernen Regionen ein Naturgesetz ist (ist es nicht) und wie Länder und Kommunen damit umgehen sollen. Nun ist Landflucht ein Thema, seit es Städte gibt, und der Bedeutungsverlust der ländlichen Regionen beileibe nichts Neues. Im Osten begann er sich in den 1990er Jahren zu beschleunigen, als der Staat anfing zu sparen und es Wichtigeres gab als eine funktionierende soziale Infrastruktur auf dem Land – „der Markt“ sollte es schon richten. Im Westen vollzog sich dieser Prozess schleichender; lange konnte man dort noch von einstiger Prosperität zehren. Inzwischen ist aber auch in den abgehängten Regionen Westdeutschlands der Niedergang nicht mehr zu übersehen.

Ute und Werner Mahler haben also nicht etwa ein neues Phänomen entdeckt. Die oben beschriebene aktuelle Gemengelage hatten sie durchaus schon im Hinterkopf, als sie vor vier Jahren damit begannen, mit einer Großformat-Plattenkamera in Kleinstädte zu fahren. Das Verdienst ihres Langzeit-Fotoprojekts Kleinstadt liegt darin, dass die beiden sich viel Zeit genommen haben, ein Lebensgefühl zu erkunden, an die Ränder zu gehen, dorthin, wo Zuversicht rar gesät ist. Wo jedermann nur durchfährt, haben sie Halt gemacht und in den Gesichtern und (Stadt-)Landschaften nach dem Wesenskern des Phänomens Kleinstadt gefragt. Der aus diesem Unterfangen entstandene, von dem Grafiker Florian Lamm kongenial gestaltete Bildband versammelt in 69 Fotos die Essenz ihrer Recherche. Von Anbeginn fest stand die Entscheidung für Schwarz-Weiß, um den Betrachter nicht abzulenken und den Blick wie durch ein Vergrößerungsglas auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Echtheit des Ausdrucks

Als die beiden Mahlers vor zehn Jahren, als jeder für sich bereits ein reichhaltiges Fotografenleben hinter sich hatte, begannen, zusammenzuarbeiten, waren die Monalisen der Vorstädte ihr erstes gemeinsames Projekt. Diese klassische Porträtserie von jungen Frauen, die an den ausfransenden Rändern großer Städte in ganz Europa lebten, war der Beginn einer Suche, die mit Kleinstadt ihre Fortsetzung gefunden hat. Es ist die Suche nach Authentizität in einer sich in ihre Einzelteile auflösenden und zunehmend fragmentierten Ich-Gesellschaft. Den beiden Fotografen geht es um Wahrhaftigkeit sowie Echtheit des Ausdrucks, die in den Zentren des aufgeregten, rasend schnell um sich selbst drehenden Großstadtbetriebs nur schwer zu finden ist. Um ein Bild von der Befindlichkeit des Landes zu bekommen, braucht es den Abstand vom nervösen Gewusel. Erst an den Rändern kommt das Land zu sich und gibt Wahrheiten preis, abgesehen davon, dass die meisten Menschen in Deutschland immer noch jenseits der Ballungszentren leben und die Suche nach dem inneren Zusammenhalt schon deshalb an der Peripherie beginnen muss.

Was aber bedeutet es heute aus Künstlersicht, in einer kleinen Stadt zu leben? Bei der Eingrenzung ihres Untersuchungsfeldes hielten sich die Mahlers an die immer noch gültige amtliche Definition des Kaiserlichen Statistischen Amtes, die eine Stadt mit bis zu 20.000 Einwohnern zur Kleinstadt erklärt. Ausgehend davon reisten beide über drei Jahre kreuz und quer durch die Republik in über 100 Kleinstädte. Die Wiedererkennbarkeit spielte dabei keine Rolle. Im Buch gibt es keinerlei Ortsangaben, ihre Arbeit ist vielmehr der Versuch, die Kleinstadt an sich als prototypischen Lebensraum zu skizzieren. Kriterium für die Auswahl der Reiseziele war es, Orte zu finden, die in keinem Reiseführer stehen, weit weg von der Autobahn sind und auch sonst keine großen Attraktionen oder Unternehmensansiedlungen aufweisen. Die „übersehenen Kleinstädte“, wie Ute Mahler sie nennt. Anlässlich einer Buchvorstellung erzählte sie, wie schwierig es am Anfang gewesen sei, in einer beliebigen Stadt überhaupt Protagonisten zu finden, die sich fotografieren ließen: „In der Regel sind die Orte wie ausgestorben, und man trifft keinen Menschen; nur zweimal am Tag ist etwas Betrieb, nämlich morgens, wenn alle zur Arbeit oder in die Schule fahren, und spätnachmittags, wenn dieselben Leute wieder zurückkommen, nur um sich meistens gleich wieder in ihren Häusern zu verschanzen.“

Es ist diese merkwürdige Abwesenheit von (öffentlichem) Leben, die jedem Großstädter auffällt, der über Land fährt, und wie sie sich auch in der abweisenden Architektur einer Kleinstadt manifestiert. Die Bilder im Buch erzählen: Es braucht keine Ruinen und keinen Verfall, um zu zeigen, dass etwas nicht stimmt; die nach außen hin properen Städtchen scheinen wie erstarrt, doch überall sind noch die Zeichen verblichenen Glanzes und einstiger Lebendigkeit zu sehen. Eine Müdigkeit liegt über dem Land, und statt eines funktionierenden Gemeinwesens dominieren Vereinzelung und Leere das Stadtbild. Dabei sind gerade die schrumpfenden Kleinstädte solche, an denen man durchaus noch füreinander da ist. Befragt man junge Leute in diesen Orten, nennen sie häufig als Grund für ihr Dableiben oder Noch-nicht-Wegsein das familiäre Umfeld oder den Zusammenhalt in der Clique.

Ist dies die wahre Avantgarde?

Nur gibt es eben in den zum endlosen Sparen verdammten Kommunen die öffentlichen Räume nicht mehr, in denen sich ein Gemeinschaftsleben sichtbar äußern könnte – Jugendklub, Kulturhaus (im Osten), Kneipe, Vereinshaus, die kleinen Läden – alles weg. So treffen sich junge Leute am Buswartehäuschen oder an der Tankstelle – und die Alten bleiben zu Hause. In ihrer Not fingen die Mahlers an, ihre Reisen an den Terminen für Stadtfeste auszurichten, sie sind oft noch der einzige Anlass, an dem Gemeinwesen stattfindet.

Zentrales Element des Projekts Kleinstadt sind Porträts ihrer Bewohner. Abgesehen von oben beschriebenem Problem, überhaupt jemanden anzutreffen, standen die Mahlers bald vor der Frage, welche Richtung ihre Erzählung von der Kleinstadt nehmen sollte. Anstatt wahllos interessante Gesichter jeden Alters vor die Kamera zu holen, entschieden sie sich bald, den Fokus auf die Jungen zu legen. Die dahinterstehende These ist so einfach wie plausibel: Geht die Jugend, stirbt die Stadt. Jugend steht somit als Metapher für die Hoffnung auf Zukunft. Als Porträtfotografen zählen beide Mahlers zu den Großen ihres Faches. Ihr Markenzeichen sind die Ruhe und Konzentration des Ausdrucks in den Gesichtern der Porträtierten. Das ist zum einen durch das Großformat bedingt, welches –man braucht ein Stativ, die Kamera muss eingerichtet werden – schnelle Schnappschüsse schon technisch unmöglich macht und ein Sich-Einlassen auf den Prozess des Fotografiertwerdens geradezu erzwingt. Dass die Jugendlichen vor der Kamera aber so ganz bei sich sind und sich scheinbar dem Betrachter öffnen, hat freilich ebensoviel mit dem psychologischen Geschick der Akteure hinter der Kamera zu tun, mit deren Lebenserfahrung und Gespür für die Inszenierung. Das Schwarz-Weiß der Bilder trägt ein Übriges dazu bei, die Stadtansichten und Porträts zu zeitlosen Zeugnissen werden zu lassen.

Die Zeitlosigkeit findet sich indes auch in vielen der jugendlichen Porträtierten wieder; deren Gesichter tragen häufig bereits ihre Zukunft in sich, und der Betrachter kann erahnen, woher jemand kommt und wohin ihn sein Weg führt. Diese Vorhersehbarkeit in den Physiognomien mag dem urbanen Zeitgenossen öde vorkommen, hat dieser doch verinnerlicht, dass sich nur treu bleibt, wer sich beständig ändert, um neuen wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu genügen. Aber ist die Kontinuität eines Lebensentwurfs andererseits nicht das, was viele Menschen in der flexibilisierten Start-up-Ökonomie mit ihren permanenten Brüchen und Neuanfängen schmerzlich vermissen? Sind die Kleinstädter am Ende womöglich die wahre Avantgarde? Noch und auf absehbare Zeit ist der Sog der Urbanität jedoch stärker als die Verbundenheit mit der Clique; und so werden die meisten der Jugendlichen, die wir auf den Bildern sehen, ihre Stadt schon bald verlassen haben.

Info

Das Fotoprojekt Kleinstadt erschien 2018 bei Hartmann Books. Von 18. Januar an sind Ute und Werner Mahlers Bilder in der Berliner Galerie Robert Morat zu sehen

Frank Schirrmeister ist Fotograf und Bildredakteur in Berlin. Außerdem schreibt er, mehr unter bildstelle.net

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