Wer einmal in Indien unterwegs war, erinnert sich gewiss an diesen Geruch auf den Straßen, diese einzigartige Melange aus Duft und Gestank. Der Monsun mit seiner schwer lastenden, alles durchdringenden Feuchtigkeit verstärkt die Fäulnisgerüche, dazu kommen die Aromen aus den zahlreichen Garküchen. All das vermischt sich mit den Abgasen des Verkehrs und sonstigen Emissionen aller Art. Dieser Duft ist dem Asienreisenden unauslöschlich eingeprägt, auf der mentalen Landkarte jederzeit abrufbar. Genau dieses Abrufen passiert beim Betrachten der Fotos im Bildband No Buddha in Suburbia des Fotografen Peter Bialobrzeski, in welchem er auf den indischen Subkontinent zurückkehrt und am Beispiel Mumbais von den ungehemmten Kräften des entfesselten Kapitali
ten Kapitalismus erzählt. Seine Bilder sind dabei so unmittelbar, dass der Betrachter die Klebrigkeit auf der Haut aufgrund der Hitze und des Smogs zu spüren vermeint.Mumbai ist eine der am dichtesten besiedelten städtischen Agglomerationen auf der Welt. Der Mitteleuropäer in uns schreckt davor zurück, diese megalomane Zusammenballung von halbfertigen oder schon wieder verfallenen Gebäuden, Wolkenkratzern, Elendsvierteln, Hochstraßen und Bahnlinien als „Stadt“ zu bezeichnen. Stadt, das war doch mal ein von klugen Planern erdachter verdichteter Kulturraum mit klaren städtebaulichen Strukturen?! Wenn eine gewisse Bevölkerungsdichte als Indiz für die Definition von Stadt dienen kann, ist Mumbai allerdings praktisch der Inbegriff dafür – unvorstellbare 28.000 Menschen teilen sich dort im Schnitt einen Quadratkilometer Lebensraum, in Berlin sind es 4.000. Lebten 2011 in der Metropolregion, also im Großraum Mumbai etwa 20 Millionen Menschen, sollen es nach Schätzungen der Vereinten Nationen 2020 bereits knapp 30 Millionen sein. Was wir in den deutschen Ballungszentren erleben, ist also nur ein laues Lüftchen verglichen mit dem Sturmwind der Urbanisierung, wie ihn Mumbai und andere Großstädte in Indien erleben, zumal von einer wie auch immer gearteten Regulierung dort wenig zu spüren sein dürfte.Das Licht zur blauen StundeBialobrzeski versucht, sich dem Phänomen zu nähern, in dem er an die Ränder geht, nach Suburbia. Hier, wo sich der Druck von Veränderung und Verdrängung am brutalsten manifestiert und sich neue urbane Strukturen mit Rohheit und unter erheblichen Schmerzen herausbilden, wo die Kräfte des „Marktes“ ungezügelt walten und die Ärmsten mit der neuen Mittelschicht um die letzten Ressourcen konkurrieren, findet er dystopisch anmutende, für uns schwer vorstellbare Lebensbedingungen vor. Die sicht- und fühlbare Überbevölkerung führt dazu, dass jeder Quadratzentimeter öffentlichen Raums besetzt ist und genutzt wird, um die eigene Existenz irgendwie zu organisieren. Die Verhältnisse zwingen zu Improvisation, und da nichts sicher und von Dauer ist, gerät das Improvisieren zur permanenten Überlebensstrategie. Die erdrückende Enge, verbunden mit Armut, Müll, der Luftverschmutzung und Lärm erzeugen eine explosive Mischung und es gleicht einem Wunder, dass es nicht regelmäßig zu Aufständen der Hoffnungslosen und Verlorenen kommt. Umso mehr, als dem Subproletariat sein verbliebener Lebensraum zunehmend streitig gemacht wird.Die Kehrseite der Armut ist eine wachsende Mittel- und Oberschicht – sie ist es, welche die Stadt explosionsartig wuchern lässt, da ihr Raum- und Platzbedarf ungleich höher als der der Slumbewohner ist. In Bialobrzeskis Arrangements prallen diese Gegensätze betörend und verstörend aufeinander. Auf vielen Fotos kämpfen die architektonischen Gebilde um die Hoheit über den knappen Raum, schieben sich Hochhaussiedlungen und Baustellen immer näher an die informell gewachsenen Strukturen heran, bis sie diese am Ende schlucken und überformen.Bialobrzeskis Blick auf die Metamorphosen des städtischen Raums speist sich aus profunder Erfahrung der örtlichen Gegebenheiten. Der in Wolfsburg geborene Fotograf ist seit langem so etwas wie der große Dokumentarist des asiatischen Zeitalters. Seit über zwanzig Jahren arbeitet er sich an dem Kontinent ab. Immer wiederkehrendes Ziel seiner Reisen sind die urbanen Zentren, in denen sich der Aufstieg Asiens zu globaler Dominanz am sichtbarsten zeigt. Bialobrzeskis Bilder reizen das technische und künstlerische Potential der digitalen Fotografie aus, sie überzeugen durch ihren unglaublichen Detailreichtum und die opulente Farbigkeit. Die strenge Bildkomposition und genaue Kadrierung machen jedes Motiv als Einzelbild zu einem in sich geschlossenen Kosmos, der seine eigene Geschichte erzählt. Dies umso mehr, als wir in No Buddha in Suburbia den Menschen beim (Über-)Leben zusehen. Das ist deshalb bemerkenswert, weil in den meisten von Bialobrzeskis Vorgängerprojekten, die sich mit den asiatischen Metropolen beschäftigten, eher die Architektur der Träger der Erzählung war. Dieses Mal sind die Bewohner der Megastadt die bestimmenden Akteure. In den durchweg im öffentlichen Raum entstandenen, sehr erzählerischen Motiven gerinnt das urbane Treiben zu ikonografischen Momenten, die man lange im Gedächtnis behält.Erwähnt werden muss unbedingt Bialobrzeskis Umgang mit dem Licht, dem ureigensten Stilmittel der Fotografie. Seine Bilder macht er häufig im beginnenden (oder endenden) Zwielicht, der sogenannten blauen Stunde. Verbunden mit einer langen Belichtungszeit erschafft er so ein geradezu magisches Strahlen, die Fotos scheinen von innen her zu leuchten.Landflucht und das Anschwellen der Metropolen zu zunehmend unbeherrschbaren Megastädten ist ein weltweites und lange bekanntes Phänomen. Seit etwa dreißig Jahren kommt jedoch ein Aspekt hinzu, der die weitgehende Fragmentierung des Gebildes Stadt und die Atomisierung der Stadtgesellschaft präziser beschreiben kann. In einem klugen Essay am Ende des Bandes weist der Architekt und Professor für Stadtplanung Rahul Mehrotra darauf hin, dass eine Ursache für die Verwerfungen im urbanen Raum – wer hätte das gedacht – natürlich auch in der Liberalisierung der indischen Wirtschaft zu Beginn der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts zu suchen ist. Die Globalisierung und das Entstehen einer postindustriellen Dienstleistungsökonomie verstärkten den Kampf zwischen Arm und Reich und um Ressourcen. „Der Staat“, so schreibt er, „gab seine Verantwortung, ein Bild der Stadt zu entwerfen, auf und überließ dies den Kräften des Marktes.“Kommt einem das bekannt vor? Und könnte man diese These auf Europa übertragen? Auch hierzulande gibt es schließlich genügend Beispiele für den fortgeschrittenen Grad der (ideellen) Verwahrlosung des öffentlichen Raumes.Pisse am OstbahnhofNatürlich sind wir in Deutschland weit von indischen Zuständen entfernt – aber die Tendenz ist dieselbe, nämlich die Verachtung des Kapitals gegenüber dem Gemeinwesen. Auch die europäische Stadt ist mit dem Beginn des neoliberalen Zeitalters kein Refugium demokratischer Stadt- und geordneter Raumplanung mehr. Privatisierung und Ausverkauf des höchsten Gutes einer Stadt – nämlich ihres Grund und Bodens – haben dazu geführt, dass visionäre Stadtentwicklung, die das Ganze im Blick hat, weitgehend ausgestorben ist. Investiert wird vorrangig in isolierte private Bauprojekte, die dem Renditegedanken verpflichtet und nicht daran interessiert sind, funktionierende Nachbarschaften zu entwickeln. Der Einzelne schaut, wo er bleibt und der Staat sieht dem Treiben, welches er durch die Deregulierungsorgien der letzten Jahrzehnte selbst verursacht hat, hilflos zu und beschränkt seine Rolle auf die Instandhaltung und Modernisierung der physischen Infrastruktur wie Straßen und Kommunikationsnetze. Sowohl die wachsende Ungleichheit als auch die räumliche Trennung zwischen den sozialen Schichten durch die Mietenexplosion sind Tatsachen, der selbst eine linke Stadtregierung wie in Berlin kaum etwas entgegenzusetzen vermag, auch wenn sie es nun mit einem „Mietendeckel“ versucht.Und wer einmal aufmerksam rund um den Berliner Ostbahnhof spaziert, wo viele der osteuropäischen Arbeitsmigranten stranden und der öffentliche Raum eine nach Pisse stinkender Unort ist, wird feststellen, dass Mumbai mancherorts gar nicht mehr so weit weg ist.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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