Es muss 1987 gewesen sein, als ich im oppositionellen Untergrund, den ich damals neugierig erkundete, ein Buch in die Hand gedrückt bekam. Ostberlin. Die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern hieß es, von Lutz Rathenow und Harald Hauswald, frisch erschienen im Münchner Piper-Verlag, also im Westen. Ob der Name Hauswald mir damals schon etwas sagte? Das Buch jedenfalls wurde eine Offenbarung, ähnlich wie einige Jahre zuvor Roger Melis’ Bildband Paris zu Fuß. War letzterer Balsam für den an Fernweh Leidenden, brachten mir Hauswalds Fotografien aus Ostberlin mein eigenes Umfeld auf eindrückliche Weise nahe. In ihrer radikalen Subjektivität und ihrem Fokus auf das vermeintlich Abseitige strahlten sie etwas Subversives aus – und das nicht nur in der Retrospektive. Auch dem Zeitgenossen war klar, dass hier Unerhörtes geschah. Dem übermächtigen Kanon an ideologischen Versatzstücken setzte Hauswald ein facettenreiches Bild spontanen Alltagslebens entgegen, welches den Typus des sozialistischen Menschen, wie ihn sich die SED vorstellte, konterkarierte. Man sieht die Funktionäre und Stasi-Analysten förmlich vor sich, wie sie kummervoll das Haupt wiegten. Sie konnten die Bilder, die das ungeschminkte Leben zeigten, nur als Schmähung ihrer Errungenschaften ansehen. Jedermann war klar, dass dieses Buch im Osten nie verlegt werden würde.
Nicht gewollt denunziatorisch
Dabei war Hauswalds Blick keineswegs ein gewollt denunziatorischer – im Gegenteil, im Grunde sind seine Bilder eine Liebeserklärung an das Leben, sein Blick auf die Menschen und ihre Umwelt von Empathie geprägt. Die Subversion in Hauswalds Bildern war ein Nebeneffekt. Sie ergab sich zwangsläufig aus den in den 1980ern immer grotesker werdenden Widersprüchen zwischen dem Alltag in dem vor sich hin bröselnden Land und dem offiziellen Bild. Was nicht heißt, dass Hauswald nicht durchaus auch lustvoll in den Absurditäten, die das Nebeneinander von parteioffizieller Propaganda und der undankbaren Wirklichkeit schuf, herumstocherte. Nicht umsonst sind auf vielen seiner Bilder Menschen zusammen mit Spruchbändern, Plakaten und Losungen zu sehen. Der öffentliche Raum war voll von ihnen, sie stellten den Versuch dar, die innere Leere der späten DDR mit Phrasen zu übertünchen. Nur waren die Bürger längst weitestgehend immunisiert gegen Floskeln aller Art. Erst auf den Fotografien Hauswalds wurden sie wieder zur materiellen Gewalt, allerdings im eher kontraproduktiven Sinne, denn auf ihnen mutierten sie nun zu Symbolen des langsamen Zerfalls der sozialistischen Ordnung. Dem Betrachter wurde und wird die ganze Widersinnigkeit eines Landes bewusst, in dem das Aufhängen von mehr oder weniger klugen Sinnsprüchen zur müden Pflichtübung verkam. Wenn eine Reihe älterer Damen und Herren in Ausgehkleidung auf einer Bank unter einem Transparent sitzt, welches verkündet: „Frieden ist nicht Sein, sondern Tun“, bekommt die Szenerie fast etwas Dadaistisches.
Hauswald war der klassische Straßenfotograf, ein Genre, welches heute unter erheblichem Druck steht, da die Rechtsprechung das Recht am eigenen Bild immer stärker gewichtet und man kaum noch reinen Gewissens Menschen auf der Straße fotografieren kann. In der DDR hätte es niemanden interessiert, die Menschen wären ihm mit einer heute kaum mehr vorstellbaren Offenheit begegnet, erzählte Hauswald einmal in einer Podiumsdiskussion zum Thema. Trotzdem scheint er auch über eine gehörige Portion Chuzpe verfügt zu haben, wie eines seiner wohl berühmtesten Bilder beweist. Aufgenommen am frühen Morgen in der damaligen U-Bahn-Linie A (heute die U2), zeigt es drei Prototypen von Werktätigen (heute Arbeitnehmer), nebeneinandersitzend auf der Fahrt zur Arbeit – angesichts der Tageszeit verbiestert dreinschauend, die ganze Freudlosigkeit eines spätsozialistischen Arbeiterlebens ausstrahlend. Eine tolle Momentaufnahme, denkt der Betrachter, vermutlich unbeobachtet aus der Hüfte geschossen. Im Ausstellungskatalog zur Harald-Hauswald-Retrospektive im C/O Berlin erzählen faksimilierte Kontaktbögen nun die Geschichte einzelner Bilder, auch dieses Fotos, und die Überraschung ist groß: Ganze sieben Mal hat Hauswald abgedrückt, und offenkundig findet eine Interaktion mit dem Fotografen statt, obwohl auf keinem der sieben Bilder einer der Porträtierten in die Kamera schaut. Waren sie peinlich berührt? Empört ob der Frechheit? Oder war die morgendliche Lethargie zu übermächtig? Wir wissen es nicht, aber deutlich wird an diesem Beispiel, wie gezielt Hauswald sich seine Motive erarbeitet hat. Aufdringlichkeit gehört zu einem guten Fotografen dazu, auch ein dickes Fell angesichts der Tatsache, dass er permanent in anderer Leute Privatsphäre eindringt.
Ungefähr 7.500 Filme hat Hauswald seit 1976 belichtet, das entspricht, nimmt man einen üblichen Kleinbildfilm als Maßstab, circa 270.000 Einzelaufnahmen. Nach Angaben der Restauratoren, die das riesige und zu Teilen ungeordnete Archiv des Fotografen derzeit aufarbeiten, stammen etwa 6.000 Filme aus der Zeit vor 1989. Das bedeutet, dass Hauswald rein rechnerisch an jedem einzelnen Tag des Jahres einen ganzen Film verschossen hat. Er muss fast schon manisch fotografiert haben. Da liegt die Frage nahe, warum dieser Schaffensrausch nach der Wende rapide zurückging? Nun ist es nicht so, dass Hauswald im vereinten Deutschland nichts mehr zu tun gehabt hätte. Im Gegenteil, als Mitbegründer der Agentur Ostkreuz war er ein gefragter Fotograf quer durch die neue Republik und auch weiterhin stets mittendrin im Geschehen, so beispielsweise 1990 bei der berühmt-berüchtigten Räumung der besetzten Häuser in der Mainzer Straße im Berliner Bezirk Friedrichshain. Die Kamera war auch in den Jahren – mittlerweile Jahrzehnten – nach dem Ende der DDR immer dabei – und doch scheint es, als seien ihm irgendwann die Bilder ausgegangen. Hauswalds Ostberlin-Fotos sind nicht nur dokumentarische Zeitzeugnisse, welche die Erinnerung an die DDR und Ostberlin entscheidend mitgeprägt haben. Sie zeugen auch von einer identitätsstiftenden Verbundenheit mit ihrem Sujet und sind Zeichen des eigenen Lebens, im Guten wie im Schlechten. Ostberlin und die DDR der 1980er Jahre waren das Biotop, in dem Hauswalds Bilder entstehen und gedeihen konnten und zu ikonografischen Zeugnissen wurden. In beruflicher Hinsicht waren sie seine beste Zeit. Trotz Stasi-Überwachung und der Drangsalierung durch staatliche „Organe“. Es ist ja eine Binsenweisheit, dass das Reiben an den Verhältnissen und die Konfrontation mit einem repressiven System durchaus auch äußerst produktiv sein können. Mit dem Ende der DDR scheint für Hauswald der Resonanzraum verschwunden zu sein, der seinen Fotos jene Dringlichkeit verlieh, die sie heute so wertvoll machen.
Sich selbst ist Hauswald stets treu geblieben, bis hin zur äußeren Erscheinung; die Welt um ihn herum hat sich dramatisch verändert, sodass er heute selbst manchmal wie ein Zeitzeugnis wirkt. Neben seinem (und Rathenows) Ostberlin-Buch, welches zahlreiche neue Auflagen erlebt, hat Hauswald in den letzten Jahren ungefähr sieben weitere Fotobücher veröffentlicht, in denen er dem geneigten Publikum seine DDR-Fotos in immer neuen Konstellationen darbietet. Die Konjunktur solcherart Fotobände über das Leben im Arbeiter-und-Bauern-Staat trifft offenkundig auf eine verbreitete Nachfrage. Wie kommt es, dass dieses merkwürdige kleine Land DDR so sehr nachwirkt, dass die Auseinandersetzung mit ihm dreißig Jahre nach dessen Ende noch in vollem Gange ist? Ein Grund dafür mag sein, dass die westliche Definitionsmacht zunehmend hinterfragt wird und sich neue – ostdeutsche – Deutungsmuster der DDR-Geschichte etablieren. Steckt hinter der Nachfrage nach diesen Fotobüchern der Drang, dem gefühlten Unbehaustsein der Gegenwart das warme, vertraute Gefühl des Erinnerns entgegenzusetzen? Oder der Wille zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte? Zwar wird gelegentlich die mangelnde Repräsentanz Ostdeutscher an den Schaltstellen in Politik und Gesellschaft konstatiert; für deren Vergangenheitsaufarbeitung ist jedoch auskömmlich gesorgt, unter anderem durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die eine erkleckliche Summe für die Aufbereitung und Digitalisierung des Archivs von Harald Hauswald zur Verfügung gestellt hat. Damit ist Hauswald mit seinen Fotografien vom Alltagsleben in der DDR endgültig Teil der offiziösen Geschichtsschreibung geworden.
Harald Hauswald – Voll das Leben! Retrospektive C/O Berlin, ab 12.09., die begleitende Publikation erscheint im Steidl-Verlag
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