Andreas Mühe hat vieles richtig gemacht. Nicht, weil er von wohlmeinenden Kritikern bereits als der wichtigste deutsche Fotograf seiner Zeit bezeichnet wird und die Galerien sich um ihn reißen. Auch nicht, weil er kürzlich eine große Einzelschau im Hamburger Haus der Photographie in den Deichtorhallen hatte, einem der wichtigsten Ausstellungsorte für zeitgenössische Fotografie in Deutschland. Sein Glück war, dass er nie in die Fußstapfen seines Vaters, des großen Schauspielers Ulrich Mühe, treten wollte. Er ging von Beginn an seinen eigenen Weg als Fotograf und hat mit bemerkenswerter Zielstrebigkeit früh einen Grad an künstlerischer Autonomie erreicht, der es ihm erlaubt, den frühen Tod des Vaters in einigen seiner Bilder zu thematisieren, ohne sich an ihm messen lassen zu müssen. Begleitend zur Hamburger Ausstellung ist ein umfassender Bildband erschienen.
Ihm gehorchten Kanzler
Als Magazinfotograf machte Mühe sich nach der Jahrtausendwende einen Namen mit Porträts prominenter Zeitgenossen, Künstler, Musiker und Politiker. Sein Markenzeichen ist die Perfektion der Inszenierung. Mühe fotografiert überwiegend – inzwischen ausschließlich – mit der analogen Großbildkamera, die digitale Knipserei interessiert ihn nicht. Der Aufwand, den er betreibt, ist enorm. Manchmal vergehen Wochen, bis ein Bild entstehen kann. Die Bilder bestechen durch eine klare, strenge Komposition. Man kann daran erkennen, dass seine ästhetische Schule das Theater war, das Aufwachsen in einer Schauspieler- und Theaterfamilie. Der Bildaufbau erinnert oft an ein Bühnenbild, in das er seine Figuren als Staffage stellt und wo er sie wie auf einer Bühne arrangiert und inszeniert.
Mühes großes Thema ist die Macht, ihre Darstellungsformen und ihre Repräsentation. Woher kommt sie, wie entsteht sie, wie wirkt sie? Schon früh in seiner Karriere hat er mit Vorliebe Politiker porträtiert – oder eher inszeniert. Einige Male Angela Merkel, auch Helmut Kohl, weswegen er zeitweise als Kanzlerfotograf geschmäht wurde. Sein Interesse reicht jedoch tiefer.
Die Ursprünge seines Interesses an der Macht und ihren Insignien reichen in Mühes Kindheit zurück und haben natürlich mit der DDR zu tun. Diese Herkunft ist ihm wichtig, nicht umsonst beharrt er darauf, 1979 nicht in Chemnitz, sondern in Karl-Marx-Stadt geboren zu sein. Mühe: „Ich denke, dass die Generation, die noch ein Stück weit die DDR mitbekommen hat, vielleicht politischer geschärft wurde, weil das System ja schon die Kinder geschärft hat.“ Trotz der privilegierten und vor den gängigen Zumutungen des DDR-Alltags relativ geschützten Kindheit in einem Künstlerhaushalt hat der autoritäre und vormundschaftliche Staat ihn doch geprägt und seine Sinne sensibilisiert. Oder waren es der 89er Umsturz und die Zeit danach? Zur Macht gehört ja stets auch ihre Vergänglichkeit, und nichts ist banaler und peinlicher als ein seiner Macht beraubter ehemals Mächtiger. Der Revolutionsherbst bot hierfür ausreichend Anschauungsunterricht. Das Erlebnis der „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) war offenbar für Mühe einschneidend genug, um zu nachhaltigen Fragestellungen zu kommen: Was für ein komischer Stoff ist diese Macht? Wer oder was verleiht und nimmt sie wieder? Wieso erstarren Menschen an einem Tag in Ehrfurcht vor der Aura des Mächtigen, und kurze Zeit später ist derselbe ein gejagter armer Wicht, der kaum mehr Obdach findet? Den Zeitgenossen wird das Beispiel Honecker noch lebhaft vor Augen stehen.
So gesehen sind seine beiden Porträts des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz, kaffeetrinkend und die Hecke scherend in seinem biederen Kleinbürgeridyll, eine späte Reflexion dieser Zeit. Sie fügen sich ein in eine Reihe von Porträts von Mächtigen – Politikern, Entscheidern, Wirtschaftsbossen, dem Geldadel –, die weit über eine DDR-Vergangenheitsaufarbeitung hinausweisen. Diese ist nicht oder höchstens indirekt Mühes Thema. Geblieben von der DDR scheint eine Faszination für die Obrigkeit und ihre Erscheinungsformen, sein Interesse an der Macht allerdings ist universell. In einer seiner Serien fotografierte er Arbeitsräume von Politikern. So unterschiedlich die Protagonisten – von Richard v. Weizsäcker über Thilo Sarrazin bis zu Merkel –, so sehr ähneln sich die Schaltzentralen der Macht, strahlen sie das Bedürfnis nach Bedeutung aus.
Neben Politikern fotografierte Mühe auch steinreiche Unternehmer oder die Mächtigen der Kunstwelt. Macht beruht ja nicht allein auf demokratisch verliehenen Würden oder auf Usurpation, sondern auch und vor allem auf Besitz, sie ist darum nicht weniger banal, aber viel solider und nachhaltiger. Das Porträt der Unternehmerfamilie Sander – Erben des Modelabels Wella – könnte zum Lachen reizen, denn Geschmackssicherheit und Reichtum gehen mitnichten immer Hand in Hand, wie man auch auf unserem Foto sieht. Und doch ahnt man, schon angesichts des großen Raumes, der die beiden umgibt, wo die wirkliche Macht zu Hause ist.
Kontrolle über das Bild
Mühe begeht hier durchaus eine Gratwanderung zwischen Entlarvung und Affirmation. Die Protagonisten vertrauen ihm und haben doch gleichzeitig gerne die Kontrolle über ihr Bild in der Öffentlichkeit. Bloßstellung ist nicht Mühes Absicht, das offiziöse Bild zu sezieren schon. Auch wenn er Helmut Kohl zum 25. Mauerfalljubiläum staatstragend vor dem Brandenburger Tor inszeniert, geht es ihm mitnichten um ein Herrscherporträt im klassischen, kunstgeschichtlichen Sinne, wo das Äußere idealisiert wurde, um eine bestimmte (politische) Botschaft zu übermitteln.
Aber den langen Schatten, den Kohl, bei Dunkelheit angestrahlt von riesigen Spots, in seinem Rollstuhl wirft, darf man durchaus interpretieren als den Schatten der Geschichte, die den alten Mann umweht. Kitsch oder genial? Dass der Auftraggeber für die Foto-Produktion ausgerechnet die Bild-Zeitung war, mag manchem übel aufstoßen, Mühe ist da scheinbar ganz unideologisch. Aber Macht korrumpiert eben auch, und Mühe wird aufpassen müssen, als Künstler nicht zu sehr in deren Bannkreis zu geraten.
Die zweite Linie in Mühes Œuvre ist die Auseinandersetzung mit deutschen Geisteszuständen, der Übergang zum Thema Macht ist hierbei fließend. Honeckers Jagdhaus etwa, bei Nacht fotografiert und, wie stets bei Mühe, aufwendig in Szene gesetzt, streift en passant das Narrativ vom deutschen Wald als einem mythischen Ort, erzählt aber auch von der Jagd als Privileg gesellschaftlicher Eliten. Wer die tieferen Schichten der deutschen Seele freilegen will – und nichts weniger ist Mühes Anspruch –, landet auch heute noch schnell bei der Naziherrschaft. Seine Absicht ist es, mithilfe inszenierter Bilder und Bildserien die Ästhetik des Totalitarismus und seinen Wesenskern zu ergründen. In der Serie „Obersalzberg“ lässt er Schauspieler nackt vor neutralem (Studio-)Hintergrund typische Posen einstiger NS-Größen nachstellen, um die rätselhafte Faszination für eigentlich manifeste Psychopathen wie Himmler oder Goebbels zu ergründen. Es ist, einmal mehr, eine Reflexion über die Banalität und Kleingeistigkeit des Bösen. Das Schicksal unzähliger Menschen war eben letztlich auch nur ein lebender Mensch mit Hirn und schlagendem Herzen, der am Gartentisch mit geblümter Tischdecke saß und dünnen Kaffee trank, von Vorsehung schwafelte und sich Macht über Leben und Tod von Millionen anmaßte. Mühe seziert diese Ungeheuerlichkeit, um einem Begreifen näher zu kommen.
Die Bildtafeln und Serien in dem Bildband werden von Textfragmenten aus Florian Illies’ großartigem Buch 1913 begleitet und eingefasst. 1913 entwirft ein Panorama der Zeit des Fin de Siècle am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Indem Illies pointiert und profund vom alltäglichen Leben und Treiben berühmter Zeitgenossen berichtet, macht er das Lebensgefühl der damaligen Zeit nachvollziehbar, das von der Ahnung durchdrungen war, am Ende einer Epoche und vor etwas gänzlich Neuem zu stehen. Dieses Neue wurde allerdings mitnichten mit Freude erwartet; verbreitet war die Sorge, dass ein großer Krieg drohe. Ebenso verbreitet war aber auch die Illusion, die fortschreitende internationale Vernetzung werde einen Weltkrieg unmöglich machen. Eine tragische Fehleinschätzung, wie wir Nachgeborenen wissen.
Offenkundig ist, dass Andreas Mühe Parallelen zur Gegenwart evozieren möchte. So schließt sich ein Kreis; während sich Mühe mit dem Totalitarismus der Vergangenheit auseinandersetzt, scheint er gleichzeitig vor dem der Zukunft warnen zu wollen. Darin zeigt sich die Beschlagenheit des im Osten Deutschlands Aufgewachsenen: zu wissen, dass nichts sicher ist, alles fließt und dass, was heute noch unumstößlich scheint, morgen schon Geschichte sein kann.
Info
Pathos als Distanz Andreas Mühe Kehrer 2017, 260 S., 58 €
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