Vor inzwischen schon etlichen Jahren sah ich auf der Berlinale in der Reihe Generation 14plus den britischen Film This is England (2006) – ein Rückblick auf die Thatcher-Ära in den 1980er Jahren und das Entstehen der Skinhead-Bewegung mitsamt dem Abdriften der jugendlichen (Arbeiter-) Subkultur in Rassismus und Fremdenhass. Der Film von Shane Meadows ließ mich damals sprachlos zurück, nicht nur, weil er dem jugendlichen Publikum enorm viel zumutete, sondern wegen seiner Intensität, seiner Wahrhaftigkeit und der filmisch grandiosen Umsetzung, inklusive des mitreißenden Soundtracks und der überzeugenden Darsteller. This is England gewann zahlreiche Preise, erlebte mehrere Fortsetzungen als Miniserie im britischen Fernsehen – und war dennoch in D
und war dennoch in Deutschland aus nicht nachvollziehbaren Gründen nie regulär im Kino zu sehen.Jetzt gibt es wenigstens im Fernsehen bei Arte die Gelegenheit, den Autor/Regisseur mit seiner vierteiligen Minserie The Virtues (2019) kennenzulernen. Der 1972 geborene Meadows ist ein Kind des „New British Cinema“ der 1990er, als eine neue Generation von Regisseuren begann, die tiefgreifenden sozialen Umbrüche seit Thatchers Machtantritt zu reflektieren. Von diesem sozialen Realismus war auch Meadows’ in Schwarz-Weiß gedrehter Debütfilm 24/7 (1997) geprägt, in dem Bob Hoskins als alternder Boxer orientierungslose Working-Class-Jugendliche von der Straße und in den Boxring holte.Die am Spülstein stehenAuch in seinen folgenden Filmen blieb er der Tradition des „Kitchen Sink Realism“ treu. Deren Protagonisten waren häufig die „zornigen jungen Männer“ aus dem Arbeitermilieu. Für ein Land, wo sich Identität in beträchtlichem Maße aus der Klassenzugehörigkeit speist, war und ist diese Hinwendung zu den unterprivilegierten Schichten ein Akt des Aufbegehrens gegen den – auch kulturellen – Dünkel der Bessergestellten.Sprache spielt(e) dabei stets eine entscheidende Rolle, denn soziale Zugehörigkeit definiert sich in Großbritannien in ebenso großem Ausmaß über den Slang und den Dialekt, der gesprochen wird. Deshalb ist es nur zu begrüßen, dass Arte nach langjähriger Durststrecke Filme und Serien endlich auch im Original mit Untertiteln anbietet, bisher leider nur eine kleine Auswahl.In The Virtues kann der Zuschauer also Josephs hartem Liverpooler Working-Class-Akzent lauschen und sich über die Untertitel freuen, denn mit seinem Alltags-Englisch stößt man schnell auf Verständnisprobleme. Joseph ist ein Mann mittleren Alters, trockener Alkoholiker mit gelegentlichen Rückfällen, der sich mit Aushilfsjobs über Wasser hält. Als seine Ex-Frau mit dem gemeinsamen neunjährigen Sohn nach Australien umsiedelt, schwindet sein letzter Halt und macht der Verzweiflung über sein verpfuschtes Leben Platz.Dabei blitzen regelmäßig Erinnerungsfetzen auf, die auf ein durchlebtes Trauma in der Kindheit verweisen und unbewusster Hintergrund seines Scheiterns sein mögen. Ungesagtes, Unverarbeitetes ist ebenso präsent wie unterdrückter Schmerz. Gespielt wird Joseph von Stephen Graham, der schon in This is England eine tragende Rolle innehatte und mit seiner physischen Präsenz und der Intensität beeindruckte, mit der er den rechtsradikalen Combo verkörperte. Auch in The Virtues ist er die Idealbesetzung; ein Mann, stets changierend zwischen Gewalt und Zärtlichkeit, in dessen Innerem ein Vulkan brodelt, dessen Ausbruch nur mühsam beherrschbar scheint. Etwas Hartes und Dunkles liegt wie ein Schatten auf Josephs Augen, in denen gleichzeitig stets die Sehnsucht danach durchscheint, geliebt zu werden. Diese Ambivalenz verkörpert Graham kongenial; man kann sich kaum sattsehen an diesem vom Leben gefurchten Gesicht.Das Kinderheim in IrlandVerfolgt von den Dämonen der Vergangenheit, die sich dem Zuschauer Stück für Stück erschließt, reist Joseph zurück in die ursprüngliche Heimat Irland zu seiner Schwester, die er dreißig Jahre nicht gesehen hat, um an den Orten der Kindheit seine verdrängte Geschichte zu ergründen. Von Shane Meadows ist bekannt, dass er häufig autobiografische Motive in seine Geschichten einfließen lässt, so auch in The Virtues, dem eigenes Erleben zugrunde liegt. Der Zuschauer ahnt bald, worum es geht, die Kombination Irland und Kinderheim ist durch die mediale Aufmerksamkeit einschlägig konnotiert. Dass die Serie trotzdem keiner vorhersehbaren Dramaturgie folgt und bis zuletzt spannend bleibt, liegt in der narrativen Kunst vieler britischer Autorenfilmer begründet, die sich mit einer hierzulande oft vermissten Ernsthaftigkeit für ihre Figuren interessieren.Placeholder infobox-1