Das sogenannte Widerstandsrecht bezeichnet das Recht jedes Menschen, sich aufzulehnen und den Gehorsam zu verweigern, wenn die verfassungsmäßige Ordnung – möglicherweise durch staatliche Institutionen selbst – ausgehebelt wird. Als Akt sozialer Notwehr ist es sogar im Grundgesetz verankert; in Artikel 20 heißt es: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung [die freiheitlich-demokratische] zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Ahnen Sie das Dilemma? Genau, wer entscheidet darüber, wann Widerstand angebracht und legitim ist?
Zwar gibt es aus der Geschichte des Widerstandsrechts durchaus Kriterien, die Orientierung bieten. Aber was nützen diese, wenn sich auch Rechtsextremisten darauf berufen, weil sie der Bundesregierung, also dem Staat, vorwerfen, durch seine Flüchtlingspolitik mitsamt der angeblichen Grenzöffnung von 2015 (in Wahrheit waren die Grenzen nie geschlossen) dem „Einfall islamischer Horden“ Vorschub zu leisten, woraus sich das Recht ableite, diesen Staat zu bekämpfen? Der Extremismus von links argumentiert umgekehrt ähnlich, wenn er den Institutionen vorwirft, zu wenig bis nichts gegen das Erstarken rechter Gruppierungen zu tun, was ihnen das Recht gäbe, selbiges in die eigenen Hände beziehungsweise Fäuste zu nehmen.
Entgegen dieser akademischen Einleitung kommt Und morgen die ganze Welt eigentlich sehr lebendig daher. Der Film erzählt von dem beschriebenen Dilemma: Luisa (Mala Emde) hat es satt, dass im Milieu einer linken Kommune immer nur „Transpis“ gemalt und Sprechchöre für die nächste Anti-Nazi-Demo eingeübt werden. Als Jura studierende Tochter aus gutem Hause fühlt sie sich hingezogen zur mehr oder weniger militanten Antifa und findet auch bald Akzeptanz in deren Kreisen. Sehr schnell tauscht sie ihr Jugendzimmer im elterlichen Schlösschen gegen ein schmuddeliges WG-Kabuff ein, um sich, alarmiert vom Rechtsruck im Land, dem Kampf gegen „Faschos“ zu widmen.
Dass der raschen und sehr weit gehenden Radikalisierung Luisas etwas die Plausibilität fehlt, tut der erzählerischen Wucht keinen Abbruch. Die gekonnte Inszenierung und der spannende und sehr aktuelle Konflikt dahinter verleihen dem Film jene Dringlichkeit, dass man ihm viele Zuschauer wünscht. Es ist ja vollkommen nachvollziehbar, wenn jemand am Zustand der Welt verzweifelt und der Wunsch nach radikalen Lösungen Leitmotiv des Handelns wird. „Nur Freitags brav Sprüche rufen ist nicht jedermanns Sache“, so Luisas Fazit. Damit stellt sich aber eben sehr schnell die Frage, wie weit man bereit ist zu gehen mit dieser Selbstermächtigung.
Fortan zieht Luisa nach der Vorlesung in den Kampf gegen den lokalen Rechtsextremismus – der Film spielt in der westdeutschen Provinz, mal nicht im Osten. Aus dem Niederschreien von rechten Veranstaltungen wird rasch Gewalt gegen Sachen, dem der Angriff auf Menschen folgt, was zu Verletzten auf beiden Seiten führt.
Beängstigend authentisch
Scheinbar unaufhaltsam beginnt sich die Spirale der Gewalt zu drehen. An Militanz stehen Luisa und ihre Mitstreiter dem „Gegner“ in nichts nach; das regelmäßige Boxtraining tut sein Übriges. Als dann auch noch Sprengstoff ins Spiel kommt, wird es gefährlich; gegen den Anschein terroristischer Bestrebungen reagiert die Staatsmacht allergisch und das Gewaltmonopol möchte sie sich auch nicht aus der Hand nehmen lassen, so dass Luisa und ihre Freunde auf einmal auf der Flucht vor Polizei und Verfassungsschutz sind und Unterschlupf finden bei Dietmar, einem Ex-Terroristen, der lange im Gefängnis saß und längst resigniert hat. Er sieht die Sache nüchtern: „Du kannst doch nicht jeden Nazi verprügeln – kaum bist du fertig, fängst du von vorne an.“
Dass der Film beängstigend authentisch wirkt – beängstigend in der überzeugenden Darstellung des Gewaltpotenzials, welches unter der Oberfläche der Gesellschaft kurz vor dem jederzeit möglichen Ausbruch zu stehen scheint –, hat viel mit der Regisseurin zu tun. Julia von Heinz trägt diesen weitgehend autobiografischen Stoff seit Langem mit sich herum – sie selbst ist die wohlgeborene Tochter, die sich nach dem Erlebnis eines Überfalls von Neonazis bereits als 15-Jährige antifaschistischen Initiativen anschloss. Die Gewaltfrage war dabei immer Thema, von Heinz gehörte allerdings zu jener Fraktion, die militante Aktionen zunehmend in Frage stellte und sich bald auch wieder von der Szene löste. Die Fragestellung blieb aber in ihrem Kopf: Wie lässt sich damit umgehen, dass gewaltfreier Widerstand naturgemäß an seine Grenzen stößt, die Alternative aber in ihrer Konsequenz zwangsläufig in die Vernichtung von Menschen mündet? Was unterscheidet die militante Linke dann noch von ihren Widersachern? Wie gerechtfertigt diese Fragen sind, zeigt ein Blick auf einschlägige Internetforen, auf denen die Hass- und Vernichtungsrhetorik vermeintlich linker Aktivisten keinen Zweifel daran lässt, was die Adressaten solcher Pamphlete zu erwarten hätten.
Und morgen die ganze Welt erzählt seine Geschichte ganz aus der Perspektive der linken Aktivisten. Neonazis bekommen in ihm kein Gesicht und treten lediglich als amorphes Gegenüber in Erscheinung. Nur gegen Ende verlässt der Film kurz die Ebene des Realismus; in einer traumartigen Sequenz wandelt Luisa zwischen den Besuchern einer Naziveranstaltung umher und lauscht deren ressentimentgeladenen Tiraden. Das ist der traurigste Moment des Films, weil in ihm die Möglichkeit aufscheint, dass die Übermacht des Hasses am Ende stärker sein könnte als der Widerstand dagegen. Ist es das, was die Regisseurin uns sagen will?
Info
Und morgen die ganze Welt Julia von Heinz Deutschland 2020; 111 Minuten
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