Eine Rezension über eine Sibylle-Bergemann-Ausstellung zu schreiben, die über bereits Bekanntes hinausgeht, ist eine Herausforderung; scheinbar alles ist bereits irgendwann einmal gesagt worden über die 2011 verstorbene Ausnahmefotografin mit dem besonderen Blick, alle Bilder scheinen gesehen. Davon, dass das so gar nicht stimmt, versucht uns die große Werkschau mit dem Titel Stadt Land Hund in der Berlinischen Galerie zu überzeugen. Sie Retrospektive zu nennen, scheuen sich die Kuratorinnen, denn so werden Ausstellungen genannt, die einen Überblick über das Gesamtwerk eines Künstlers zeigen. Das ist im Falle Sibylle Bergemanns allerdings gar nicht möglich, denn auch zehn Jahre nach ihrem Tod ist der Nachlass bei Weitem nicht komplett erschlosse
Sibylle Bergemann: Diese unerklärliche, geheimnisvolle Ebene
Ausstellung Auch mehr als zehn Jahre nach dem Tod der Fotografin Sibylle Bergemann ist ihr Nachlass nicht in Gänze erschlossen. Mit „Stadt, Land, Hund“ zeigt die Berlinische Galerie nun neben vielen bekannten Motiven auch 30 bisher nicht bekannte
t erschlossen. Noch immer harren etliche Kartons mit Negativen der schieren Sichtung, von Aufbereitung gar nicht zu reden. „Kaum zu glauben, dass ich zehn Jahre später noch immer nicht jedes einzelne Foto einmal in der Hand gehabt habe“, schreibt Frieda von Wild, Tochter der Fotografin, im Katalog.Sibylle Bergemann gilt als Meisterin des poetischen Realismus. Einen größeren Bekanntheitsgrad erlangte sie in den 1970er und 80er Jahren mit ihren Modefotos für die Sibylle, die wichtigste Modezeitschrift der DDR. Schaut man sich ihr Gesamtwerk an, erstaunt die Vielfalt – Mode, Reportage, Essay, Landschaft und Porträt, sie beherrschte alle Sujets. Prägend für ihr Œuvre waren neben den Modefotos vor allem die Porträts, wobei die beiden Genres bei ihr kaum zu trennen sind; in ihren Inszenierungen interessierte sich die Fotografin immer eher für den Menschen hinter der Oberfläche. Vor allem Frauen verlieh sie mit ihren Porträts eine Aura, die sich einer kühlen Analyse entzieht.Der Entschluss, den Nachlass nicht in fremde Hände, etwa die der Akademie der Künste, zu geben, sondern ihn in der Familie zu belassen, fiel noch zu Bergemanns Lebzeiten. Für Frieda von Wild ist die Erschließung und Katalogisierung des riesigen Archivs seitdem zur Lebensaufgabe geworden, unterstützt von Enkelin Lily von Wild, die derzeit einen Studiengang zur Theorie und Geschichte der Fotografie an der Essener Folkwang-Universität belegt und wissenschaftliche Expertise beisteuert. Dass die Erschließung des Nachlasses so schleppend vorangeht, hat freilich auch mit der mangelnden Finanzierung und fehlender Förderung seitens der Institutionen zu tun, die entsprechende Anträge bisher abschlägig beschieden.Sibylle Bergemann ist in Ausstellungen gut repräsentiertDen Anstoß zur aktuellen Schau gab Katia Reich, die 2020 nach der langjährigen und prägenden Amtszeit Ulrich Domröses die Leitung der Fotografischen Sammlung in der Berlinischen Galerie übernahm. Stadt Land Hund ist ihr erstes großes Projekt im Haus. Ihr Amtsantritt stellt einen Generationswechsel dar, der allerdings nicht auf die Berlinische Galerie beschränkt ist; in zahlreichen deutschen Museen hat eine neue Generation von Kunsthistorikerinnen mit fotohistorischem Schwerpunkt das kuratorische Zepter übernommen. Ob sich damit auch ein Paradigmenwechsel andeutet, was die Repräsentation von Frauen in der Fotografie und im Ausstellungsprogramm betrifft, wird die Zukunft zeigen.Um Sibylle Bergemanns Repräsentation in der deutschen und internationalen Museumslandschaft musste man sich aber auch bisher schon keine Sorgen machen. Abgesehen von zahlreichen monografischen Ausstellungen kommt kaum eine Schau, in der es auch nur entfernt um ostdeutsche Fotografie geht, ohne ihre Bilder aus; geht es um Modefotografie, adelt ihr Name jede Ausstellung. 2006 gab es eine repräsentative Werkschau in der Akademie der Künste, und seit 2009 reist eine Auswahl ihrer Werke in einer Tourneeausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen um die ganze Welt. Das wirft freilich die Frage auf, welche neuen Facetten die aktuelle Ausstellung mit ihren circa 200 Fotografien zu vermitteln vermag? Die Antwort liegt zum einen in der Vielfalt an fotografischen Themen und Sujets, die Sibylle Bergemann umtrieben, die so viele und fortgesetzt neue Entdeckungen ermöglicht, dass sich immer wieder überraschende Querverweise und Beziehungen zwischen einzelnen Werkgruppen herstellen lassen.Wichtiger scheint aber, dass sich die Erben und Verwalter des Nachlasses mit dem zeitlichen Abstand und der Arbeit am und mit dem Material inzwischen eine gewisse Emanzipation von dem übergroßen Vorbild erarbeitet haben. Im Mittelpunkt der kuratorischen Arbeit steht nun nicht mehr ausschließlich die Frage: „Was hätte Sibylle gedacht/getan/ausgewählt?“, was durchaus auch einen Bruch mit tradierten Hängungen und Sehgewohnheiten bedeuten mag. Die Generation der Nachgeborenen eignet sich mit dieser Ausstellung Bergemanns Werk an und präsentiert in einer streng subjektiven Auswahl der gezeigten Werke ihre eigene, zeitgenössische Sicht und Interpretation. Ob es denn auch Überraschungen beim Sichten der Kisten mit den Bildern gäbe, wurden Frieda und Lily von Wild vor Längerem in einem Interview gefragt. Nun ja, antworteten sie, man sieht es nicht immer auf Anhieb, aber es ist wirklich auf vielen Bildern ein Hund zu sehen – was letztlich zu dem seltsamen Titel der Ausstellung führte.Ihre frühen Experimente werden sichtbarVon den etwa dreißig bisher noch nie gezeigten Motiven aus dem Frühwerk der Fotografin überraschen vor allem die Farbbilder aus New York, wohin sie mit ihrem Mann und Kollegen Arno Fischer 1984 reisen durfte. Über Jahrzehnte verabscheute sie die Farbe in der Fotografie als „laut, grell, abscheulich“ (Jutta Voigt). Erst in ihrem Spätwerk entdeckte sie – zum Glück – noch deren Möglichkeiten, denn ihre Modefotos aus Afrika, die sie 2010 für das Magazin Geo machte, sind ohne den Farbenrausch gar nicht denkbar. Zu entdecken ist nun, dass Bergemann bereits 1984 mit Farbe experimentierte und schon ihre Farbdias aus New York eine ähnliche Leuchtkraft besitzen, wie sie die späten Farbfotos kennzeichnen.Neben den Neuentdeckungen aus dem Archiv und vielen Bildern ihrer frühen Reisen, unter anderem in die Sowjetunion, die USA und nach Paris, wird der Besucher Altbekanntes und „Klassiker“ aus verschiedenen Epochen von Bergemanns Schaffen wiederfinden, interessant für Jüngere, die Sibylle Bergemann und die traumwandlerische Sicherheit und Intuition, mit der sie ihre Motive arrangierte und komponierte, erst entdecken. Auswahl und Editierung folgen weniger einem bestimmten Leitfaden, sondern sind vielmehr auf eine „assoziativ-poetische Stimmigkeit“ (Bertram Kaschek im Katalog) gerichtet, die Bergemanns Idee einer humanistischen Fotografie verdeutlichen will. Nicht zuletzt sind alle Fotografien in der Ausstellung (bis auf die Erstvergrößerungen) Vintage-Prints, also Originalabzüge, die Bergemann selbst hergestellt hat. Das wird zu schätzen wissen, wer weiß, dass sie eine Perfektionistin der Dunkelkammer und diese ihr wichtigster Rückzugsort war. „Gäste berichten, dass Bergemann selten zu sehen war. Meist arbeitete sie in der Dunkelkammer“, heißt es lakonisch im Katalog in einem Text von Anne Pfautsch über die Ostberliner Boheme und deren private Räume als Oasen der Begegnung.Eine unerklärliche EbeneDer Katalog zur Ausstellung eröffnet mit der Serie Fenster, eine der ersten, wenn nicht überhaupt die erste konzeptionelle Werkserie Bergemanns von Ende der 1960er Jahre. Auch das eine intuitiv-subjektive Entscheidung der Nachgeborenen, welche die Urheberin so vermutlich nicht getroffen hätte. Dabei zeigen die Fenster geradezu exemplarisch den Beginn ihres Schaffens und den Versuch, ihre Scheu zu überwinden und sich über die Fenster den Menschen dahinter zu nähern. Wie in ihren späteren berühmteren Arbeiten und Porträts gibt es auch in ihnen bereits diese unerklärliche, geheimnisvolle Ebene und eine Melancholie, die auf die Fotografin selbst zu verweisen scheint.Auffallend ist das Bemühen um eine wissenschaftliche Methodik und quellenbasierte Herangehensweise in den Texten des Katalogs. Die durchaus akademischen Ansprüchen genügenden Essays veranschaulichen den elf Jahre währenden künstlerischen Prozess, der zu der berühmten Serie Das Denkmal führte (Jan Wenzel), untersuchen Bergemanns Typologien von Weiblichkeit (Susanne Altmann), beschreiben ihre zahlreichen Reisen vor 1989 (Lily von Wild) oder analysieren ihr öffentliches Bild sowie die Präsenz ihrer Fotografien in Zeitungen und Büchern (Bertram Kaschek).In dem Prozess eines allmählichen Wandels der Wahrnehmung und Interpretation von Sibylle Bergemanns Werk markieren Ausstellung und Katalog damit den Beginn einer Historisierung der Fotografin und ihres Œuvres. Während die Erinnerung an den Menschen allmählich verblasst, bleiben ihre Bilder, und diese werden langsam von einem Produkt des Zeitgeschehens zum Objekt (foto-) historischen Interesses. Man darf gespannt sein, welche Überraschungen der Nachlass noch bereithält.Placeholder infobox-1