Sollbruchstellen

Film Kommt nach dem Abitur ein Leben? „Das freiwillige Jahr“ erzählt vom Freistrampeln und weiß selber nicht recht, wohin
Ausgabe 06/2020

Der Minimalismus war einst das wichtigste Merkmal der sogenannten Berliner Schule, wie die lose Gruppe von Filmemachern rund um die Berliner dffb in den Jahren vor und nach der Jahrtausendwende bezeichnet wurde. In ihrer Ästhetik der weitgehenden Reduktion der filmischen Mittel drückte sich Kritikern zufolge die wachsende Verunsicherung einer gutbürgerlichen (westdeutschen) Mittelschicht und deren Abstiegsängste aus. Gesellschaftliche Alternativen boten sie jedoch nicht an. Beim Publikum fielen diese oft als seltsam blutleer und leblos empfundenen Filme meist durch, häufig durchaus zu Unrecht.

Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen, und Ulrich Köhler und Henner Winckler, die beide jeweils Klassiker der „Berliner Schule“ schufen, haben sich erkennbar von ihren Anfängen emanzipiert. Köhler wurde 2002 mit Bungalow bekannt, einer sehr lakonischen Studie über Entfremdung, Orientierungslosigkeit und Sinnsuche. Formal und erzählerisch sehr viel lebendiger erwies sich sein letzter Film In My Room von 2018. Leider krankte die Story um einen schlaffen Großstädter, der sich plötzlich als letzter Überlebender in einer menschenleeren Welt wiederfindet und sich mannhaft behauptet, ja neuen Lebenssinn entdeckt, an einem nicht zu Ende gedachten Drehbuch. In seinem Blut-und-Boden-Existenzialismus bot der Film gar eine mögliche Projektionsfläche für neurechte Siedlerfantasien, was vom Regisseur gewiss unbeabsichtigt war, aber heutzutage eben mitgedacht werden muss.

In ähnlicher Tonlage erzählte Henner Winckler 2002 in seinem Debütfilm Klassenfahrt auf sehr reduzierte Weise (siehe oben) von den Nöten des Erwachsenwerdens und bewies sein Geschick im Umgang mit jugendlichen Laiendarstellern noch einmal in Lucy (2006). Seither arbeitet Winckler vor allem als Dozent an Filmhochschulen.

Für Das freiwillige Jahr haben sich beide zusammengetan, gemeinsam das Buch geschrieben und Regie geführt. Anders als ihre früheren Filme, die stets auch eine Feier der Langsamkeit waren, legt Das freiwillige Jahr gleich zu Beginn ein hohes Tempo vor: Die 18-jährige Jette ist mit ihrem Vater auf dem Weg zum Flughafen für ein Auslandsjahr in Costa Rica, wie man das halt so macht nach dem Abitur. Aber will sie das überhaupt? Das elterliche Nest, die Heimat und ihren Freund verlassen? Oder folgt sie eher dem Druck ihres alleinerziehenden Vaters, der seine Tochter davor bewahren will, in der Provinz hängenzubleiben, so wie er selbst? Am Ende der rasanten ersten halben Stunde des Films sitzt Jette auf jeden Fall nicht im Flugzeug, sondern ist mit ihrem Freund im elterlichen VW-Bus auf der Flucht vor eben diesen.

Jette hat eine eigene Entscheidung getroffen – ob es die richtige war, scheint fraglich, und schon nach der folgenden romantischen Nacht läuft sie erneut davon, diesmal vor dem Freund.

So echt, als wären’s Laien

Der Film erzählt vom Erwachsenwerden und den damit verbundenen Abnabelungsprozessen. Jette muss sich von ihrer Jugendliebe abnabeln, um ihren eigenen Weg zu gehen, aber auch von ihrem Vater, der seine Verlustangst hinter Überfürsorglichkeit versteckt. So weit, so bekannt; das Coming-of-Age-Genre erfinden die Regisseure nicht neu. Die Stärke des Films liegt jedoch in der Glaubwürdigkeit der handelnden Personen. Wie nur wenigen Kollegen gelingt es dem Regisseur-Duo, den Darstellern ihre eigene Sprache zu belassen, die Figuren ernst zu nehmen und eine geradezu dokumentarische Authentizität zu erzeugen.

So subtil, genau und echt sind die Dialoge, Gesten, Blicke der beiden Jugendlichen, dass man glauben könnte, Laien dabei zuzusehen, wie sie sich selbst spielen. Aber Maj-Britt Klenke als Jette und Thomas Schubert als ihr Freund Mario sind natürlich richtige Schauspieler, die hervorragend geführt werden. Wie in der Liebesnacht im Bus nach der Flucht in scheinbar nebensächlichen, zeichenhaften Momenten die Sollbruchstellen ihrer Beziehung sichtbar werden, die dann später tatsächlich zum Bruch führen, ist filigrane Schauspielarbeit. Es ist ein Vergnügen, den Darstellern bei ihrem Spiel zu folgen, auch wenn die behandelten Konflikte eher nicht das Potenzial haben, die Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern.

Und vielleicht ist genau das letztlich das Problem des Films. Nach einem furiosen Auftakt und der Hälfte der Laufzeit ist das Wichtigste eigentlich erzählt. Eine richtig zündende Idee für den Fortgang der Handlung fehlt, und so wird der Grundkonflikt – Bleiben oder Weggehen – noch einmal von verschiedenen Seiten beleuchtet, bis der Film in ein etwas unverständliches Finale mündet.

Das liegt daran, dass sich Das freiwillige Jahr nicht wirklich für eine Perspektive entscheiden kann, aus der heraus der Film seine Geschichte erzählt. Diese fehlende Fokussierung lässt das Interesse schleichend erlahmen. Das ist schade, denn natürlich ist es richtig und wichtig, auch solche scheinbar banalen und „kleinen“ Geschichten zu erzählen und im Kino zu finden. Aber die Dringlichkeit, warum diese Geschichte genau so und im Kino erzählt werden muss, will sich nicht recht erschließen. Das Kino als Ort steht angesichts der vielen Streaming-Plattformen und hoher Eintrittspreise zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Gewinnen lässt sich das Publikum nur mit elaborierten Geschichten, die erzählerisch überzeugen und eben jenen gewissen Gefühlssog erzeugen, der in der Gemeinschaft eines Kinosaals zum besonderen Erlebnis wird.

Info

Das freiwillige Jahr Ulrich Köhler, Henner Winckler Deutschland 2019, 86 Minuten

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