Was oder wo ist Heimat? Was zunächst nach einer banalen, tausend Mal gehörten Frage klingt, gewinnt bei längerem Nachdenken zunehmend an Kontur, wird größer, komplexer, und stagniert schließlich so oft als hilflose Feststellung: „Tja, was ist denn Heimat?“
Die Journalistin Hatice Akyün, aufgewachsen in Duisburg, die das Projekt Experiment HEIMAT als Autorin begleitet hat, schreibt: „Das dichte Beziehungsgeflecht meiner Kindheit mit Verwandten, Freunden und Nachbarn gibt es in der heutigen Zeit nicht mehr, zumindest nicht in den großen Städten.“ Als 1969 in der Türkei Geborene und mit drei Jahren nach Deutschland Gekommene steht sie für die Zerrissenheit jener Generation der Einwanderer, deren Kampf darum, in der deutschen Gesellschaft anzukommen und akzeptiert zu werden, scheinbar nie enden will. Für sie ist Heimat der eigenartige Geschmack der Kohleöfen im Mund, den sie mit dem Aufwachsen in einer Duisburger Zechensiedlung verbindet. Befremdlich sei, so schreibt sie, dass Deutschland nach außen so offen sein kann, nach innen aber merkwürdig verschlossen wirke.
Blick der Feldforscher
Ist Heimat also nur mehr ein nostalgisches Gefühl, gar ein unerreichbares Ideal? Nicht zu vergessen die Usurpation des Heimatbegriffs durch die Neue und Alte Rechte. Zu fragen wäre danach, was unsere entgrenzte Mobilität und das Internet mit der Vorstellung von Heimat machen. Home is where my Laptop is? Sind die digitalen Nomaden das Ideal des neuen Weltbürgers, der keine physische Heimat mehr braucht? Andererseits: Gerade noch daran gewöhnt, in der ganzen Welt – physisch und mental – zu Hause zu sein, scheint die Globalisierung mit der Pandemie und aktuell dem Krieg in der Ukraine an ihre Grenzen gekommen zu sein und eine Rolle rückwärts zu drehen.
Die Frage nach der Heimat ist also viel zu komplex, um ihr nicht mit gehörigem Respekt zu begegnen, ermöglicht aber andererseits viele Zugänge des Nachdenkens über den Heimatbegriff, weshalb das Thema gerne aufgegriffen wird, wenn es darum geht, lokale Identitäten zu be- oder hinterfragen. Selbiges hat das „Westfälische Literaturbüro in Unna“, so der volle Name, getan. Das Literaturbüro ist eine vom Land Nordrhein-Westfalen finanzierte Einrichtung, die sich der Förderung der lokalen Szene widmet. Mit einer üppigen Förderung aus dem Landeshaushalt versehen, starteten die Initiatoren das mehrjährige multimediale Großprojekt Experiment HEIMAT, dessen wichtigste Ergebnisse eine durchs Bundesland wandernde und von verschiedensten Veranstaltungen begleitete Ausstellung sowie vorliegender Bild-Text-Band sind.
Kern des Projekts war die Einladung an verschiedene Autoren und Fotografen, sich in Zweierteams des Untersuchungsobjekts Westfalen anzunehmen. Die Eingeladenen sollten nicht aus NRW, sondern aus anderen Regionen, Orten, Ländern kommen, um durch den fremden Blick im besten Fall völlig neue Blickwinkel zu eröffnen. Die beteiligten Künstler, unter ihnen Peter Bialobrzeski, Jörg Brüggemann, Helene Bukowski, Nora Gomringer, Lütfiye Güzel, Wladimir Kaminer, Loredana Nemes, Sharon Dodua Otoo und Nikita Teryoshin, haben sich sozusagen als Feldforscher im ethnologischen Sinne betätigt, was beinhaltet, auch die eigene Rolle und Herangehensweise mit in die Beschreibung und Interpretation aufzunehmen und zu reflektieren. Jeweils eine Woche sollten sie an zuvor ausgewählten Orten verweilen und sich mit dem Thema auseinandersetzen.
Offenkundig hat sich der Heimatbegriff verändert, zumindest in den künstlerischen Interpretationen, die im Buch zu betrachten und zu lesen sind. Zu sehr sind die traditionellen Konnotationen von Heimat wie Bodenständigkeit und die vermeintlich deutschen Tugenden ideologisch vorbelastet, als dass man Heimat heute anders als distanziert oder ironisch gebrochen wahrnehmen, hinterfragen und ad absurdum führen kann. Dinge wie Brauchtum oder regionale Folklore spielen in den Beiträgen des Buches keine Rolle mehr. Man muss das als Fortschritt sehen, denn der herkömmliche Heimatdiskurs hatte eben immer auch die Ausgrenzung der „Anderen“ zur Voraussetzung, von Migranten oder Menschen, die sich aus verschiedensten Gründen nicht in die idealisierte „Gemeinschaft“ einfügen wollten oder konnten. Am ehesten greifen die Fotografen Ute und Werner Mahler noch diesen Dialog mit der Historie auf, die ihre Woche im Teutoburger Wald rings um das Hermannsdenkmal verbrachten. Beide gelten immer noch als nationale Symbole mit zum Teil belasteter Geschichte. Aber sind sie es wirklich noch oder nicht vielmehr einfach beliebte, harmlose Touristenziele? Galt der Ausflug zum Hermannsdenkmal einst ganzen Schulklassen als wichtiger Bestandteil ihres Geschichts- oder Heimatunterrichts, ist es heute einsam geworden um Hermann, wie Wladimir Kaminer in seinem Text zu den Bildern der Mahlers feststellt. Als nationale Mythen taugen Denkmal und Wald kaum noch, Letzterer ist in der Gegenwart eher von der um sich greifenden Trockenheit und dem Klimawandel bedroht.
Ein eigener Menschenschlag
Wie unterschiedlich die Lebensrealitäten in den urbanen Zentren auf der einen und den deindustrialierten Landstrichen auf der anderen Seite sind, haben gerade erst die Landtagswahlen in NRW gezeigt. Besonders die erschreckend niedrige Wahlbeteiligung in den abgehängten Regionen und ehemaligen Industrierevieren belegt, wie sehr sich die Lebenswelten entkoppelt haben. Wenn es um Provinz geht, ist meist nur die Rede von der Verödung des ländlichen Raums und dem Ausbluten der kleinen Städte. Tatsächlich spielt sich das pralle Leben auch in Westfalen eher in den Städten wie Bochum mit seiner Ruhr-Universität ab. Die jungen Menschen, die Aleksandra Weber auf dem Campus porträtiert hat, strahlen eine Weltläufigkeit aus, wie man sie an Orten findet, an denen Bildung im Vordergrund steht und sich unzählige Nationalitäten auf engstem Raum mischen. Gleiches ist freilich von Dörfern mit Namen wie Fleckenberg, Kirchrarbach, Latrop, Niedersorpe, Oberhenneborn oder Holthausen nicht zu erwarten. Eher beschwören solch wundersam verschrobene Ortsbezeichnungen einen ganz eigenen Menschenschlag herauf, der mit der Hektik einer Großstadt wenig anfangen kann und sich selbst genügt. Gleich mehrere Arbeiten widmen sich der Vermessung der westfälischen Provinz, darunter Christina Stohn, die in ebendiesen Dörfern nach einer verbindenden Identität suchte. Tatsächlich hat der Betrachter in den Orten mit den seltsamen Namen, in denen Höfe, Häuser, Kulturtechniken seit Jahrhunderten weitergegeben werden, noch am ehesten das Gefühl, dass Heimat als etwas Konkretes und gleichzeitig Positives wahrgenommen wird. Klassische Heimat-Assoziationen wie Geborgenheit, Sicherheit, Schutz und Zugehörigkeit – hier sind sie zu finden. Autorin Sabrina Janesch, selbst Halb-Deutsche, Halb-Polin, mit einer Famliengeschichte, die geprägt ist von Flucht, Vertreibung und Losgelöstheit, schreibt in ihrem Essay über den Reiz, den diese Versuchsanordnung auf sie ausübte, „eine Woche lang auszuprobieren, wie es sein könnte, wie es wäre, an einem Ort wahrhaft verwurzelt und verzweigt zu sein“. Peter Bialobrzeski spürte dieser Identität in der baulichen und architektonischen Verfasstheit der Stadt Unna nach. Aufbruch strahlen seine Aufnahmen nicht aus, die Zeit scheint eingefroren und allerorten verblassen die Zeichen einstiger Prosperität.
Hat der Betrachter am Ende mehr über das Heimatverständnis der Westfalen erfahren? Die eindeutige Antwort muss „Jein“ lauten. Heimatkundlich ergibt sich durchaus ein Erkenntnisgewinn. Den Anspruch des Projekts, den Blick von außen mit der Selbstwahrnehmung der in Westfalen lebenden Menschen abzugleichen und daraus ein Heimatgefühl abzuleiten, kann das Buch allein freilich nicht erfüllen; das ist Aufgabe der Begegnungen vor Ort im Rahmen der Wanderausstellung und den damit verbundenen Gesprächen, Workshops und sonstigen Veranstaltungen. Die Vielfalt der künstlerischen Interpretationen kann in der Summe kein schlüssiges Bild ergeben und soll es auch gar nicht. Gerade die Widersprüchlichkeit, Lückenhaftigkeit und Unabgeschlossenheit der unterschiedlichen Antworten auf die Fragen, die das Experiment HEIMAT aufgeworfen hat, machen seinen Reiz aus.
Info
Experiment HEIMAT Peter Bialobrzeski (Hrsg.) Hartmann books 2022, 280 S., 28 € Mehr Infos online auf experimentheimat.de
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