Wie gemalt: Einblicke in die Wohnungen der Charlottenburger Oberschicht
Bildband Wie wohnen Berlins Künstler:innen und Intellektuelle? Bekannt wurde Anne Schönharting mit Fotoreportagen aus dem Berliner Prekariat. Szenenwechsel hinter Charlottenburgs Flügeltüren: „Habitat“ gibt Einblicke in der Reichen schönen Stuben
Gibt es eigentlich noch eine Bohème? In unserem spät- oder postkapitalistischen Hier und Heute scheint diese Spezies ja so gut wie ausgestorben. Aber halt, möchte der Betrachter angesichts der von Anne Schönharting porträtierten Menschen ausrufen, ja, sie lebt noch. Es scheint jedenfalls naheliegend, das unkonventionelle und stilbewusste großstädtische Milieu der Künstler und Intellektuellen, welches Schönhartings Bildband bevölkert, als Bohème zu klassifizieren.
Einen entscheidenden Unterschied zur herkömmlichen Definition von Bohème setzt diese Einordnung allerdings voraus: Während der Bohèmian bei Puccini noch in Armut und Elend an der Schwindsucht dahinschied und bei dem Filmemacher Aki Kaurismäki auch mal m
auch mal mit dem Hund um den Knochen als Mahlzeit konkurrierte, ist Bohème heute kein Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft mehr, sondern deren Inkarnation. Einst setzten die unangepassten Freigeister den normativen Zwängen einer auf Leistung getrimmten Gesellschaft ein Leben in selbstgewählter Askese und Armut, allein der künstlerischen Selbstverwirklichung verpflichtet, entgegen. In der Gegenwart ist Bohème, wenn man sie denn so bezeichnen möchte, offenkundig mehr an Vermögen und Herkunft gebunden, beziehungsweise sind diese die Voraussetzung dafür, ein bohèmegleiches Leben führen zu können. Geld und Besitz gering zu schätzen, kann sich in der Hartz-IV-(bald Bürgergeld)-Gesellschaft nur der leisten, der genug davon hat.Eine geschlossene WeltDie bourgeoise Klientel, die in Habitat versammelt ist, hätte selbst vermutlich nichts gegen die Zuschreibung als Bohème. Es bleibt jedoch zu konstatieren, dass Anne Schönharting schlicht die Upperclass porträtiert hat, wie sie sich in riesigen Charlottenburger Altbauwohnungen in den Kulissen ihres Lebens präsentiert. Dass darunter viele Künstler sind, ist dazu kein Widerspruch, auch oder gerade im Kunstbetrieb gibt es neben der Masse der Darbenden die kleine Oberschicht der durch oder mit Kunst reich Gewordenen. Ein Buch lang dürfen wir Einblick nehmen in ein sozial weitgehend homogenes Milieu, welches in seiner eigenen kleinen Blase lebt und sich naturgemäß gerne abschottet gegen den großen weiten Rest. Die Abgrenzung erfolgt dabei auf denkbar einfache Weise, nämlich über den Quadratmeterpreis, der für die großen Wohnungen gezahlt wird. Der Zugang in diese geschlossene Welt gelang Anne Schönharting meist über Empfehlungen, mit denen sie von Tür zu Tür gereicht wurde.Ihre Gabe, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, war gewiss eine gute Voraussetzung dafür. Mit dieser Gabe hat sie seinerzeit auch die Menschen aus dem Souterrain der Gesellschaft porträtiert. Bekannt wurde sie mit ihren Reportagen über sozial benachteiligte Menschen und vor allem Kinder. Besonders die intensiven Sozialstudien aus der Hellersdorfer Arche sind dem Rezensenten im Gedächtnis geblieben. In der jüngeren Vergangenheit verbinden sich mit ihrem Namen eher Modestrecken für Marken wie Brioni oder Louis Vuitton.Habitat entstand im Laufe von zehn Jahren. Die Initialzündung war 2012/13 der Umzug der C/O-Galerie vom Bezirk Mitte ins bürgerliche Charlottenburg. Für die erste Ausstellung im neuen Haus unternahmen verschiedene Ostkreuz-Fotografen eine visuelle Bestandsaufnahme dieses städtischen Mikrokosmos, der seit jeher von schroffen Kontrasten geprägt ist – von den Obdachlosen rund um den Bahnhof Zoo, die Werner Mahler porträtierte, bis eben zu dieser parallelen Lebenswelt des distinguierten Bildungsbürgertums, dem Schönhartings Interesse galt. Daraus ist nun ein beeindruckend schöner, großformatiger Bildband entstanden, der dem Sujet einen würdigen Rahmen gibt.Voyeurismus spielt eine RolleAugenscheinlich ist die Empathie, mit der sich Schönharting den Menschen stets auf die gleiche Weise nähert, ob sie nun in Hellersdorf oder Charlottenburg leben. Den Unterschied macht freilich der Raum aus, in dem sich die Protagonisten bewegen. Sein eigenes Leben im häuslichen Umfeld als Gesamtkunstwerk zu inszenieren, fällt im verschwenderischen Luxus hoher weiter Räume eben ungleich leichter als in einer Plattenbau-Unterkunft. Eine kongeniale Vorlage für Schönharting, die das Wechselspiel zwischen den Menschen und den sie umgebenden Dingen und Räumen zu malerischen Tableaus verarbeitet. Man spürt die Lust, mit der die Fotografin die Inspiration des jeweiligen Ortes aufgreift und sich von ihr leiten lässt. Nun gehen Geschmackssicherheit und Besitz mitnichten immer Hand in Hand, aber die einladende Vielfältigkeit der Interieurs sowie der Lebensstile machen den Reiz des Schauens aus. Natürlich spielt auch Voyeurismus eine gewisse Rolle, wenn man als Betrachter interessiert die privaten Räume und deren Intimität besichtigt. Für die Klientel, darunter etliche bekannte Namen, ist das kein Problem, man zeigt gerne, was man hat und ist.Placeholder image-3Die noblen Altbauten aus der Gründerzeit, in denen die Protagonisten wohnen, spielen bei alldem eine wichtige Rolle. Der Fluss der Porträts wird ab und zu unterbrochen durch Aufnahmen von Details der Domizile, die vom Gestaltungswillen der einstigen Erbauer sprechen. Sie zeugen von einer Zeit, in der Architektur nicht nur investorenfreundliche Kostenoptimierung bedeutete, sondern auch Kulturaufgabe war. Woran die Moderne seit dem Bauhaus mit ihrem reinen Zweckmäßigkeitsdenken gescheitert ist, wird hier erfahrbar; nämlich den Dingen eine Haptik und kreative Sinnlichkeit zu geben, die Geborgenheit ausstrahlt. Nicht umsonst gehören die Altbauquartiere Berlins, ob im Prenzlauer Berg oder Charlottenburg, heute zu den begehrtesten und teuersten Wohnlagen, woran sich zeitgenössische Architekten und Stadtplaner jedoch selten ein Beispiel nehmen und den Stadtraum mit den immer gleichen kalten und ermüdend-monotonen Scheußlichkeiten vollstellen.Die bühnenhafte Inszenierung der Wohn(t)räume mitsamt ihrer Bewohner erinnert nicht zufällig an barocke Gemälde. Die effektvollen Perspektiven wären nichts ohne das Licht, welches die Dinge und Protagonisten weich umfließt. Fotografie bedeutet nicht umsonst dem Wortsinne nach „Zeichnen mit Licht“, und bei Schönharting wird das Tageslicht zum Teil des Dramas.Einzige Irritation ist die auffällige Aufgeräumtheit der Salons, in denen die Porträtierten manchmal wie Statisten wirken. Jeder Gegenstand wirkt sorgfältig drapiert, auf Wirkung bedacht. In der scheinbaren Abwesenheit von Alltagsleben erinnern viele der Räume an das bürgerliche Konzept der „guten Stube“, die nur sonntags oder zu besonderen Anlässen genutzt wurde. Zu vermuten ist, dass in Erwartung des Besuchs der Fotografin ordentlich aufgeräumt wurde. Aber hätte nicht wenigstens irgendwo ein verschwitztes T-Shirt herumliegen können?Placeholder image-2Placeholder infobox-1