Unbequemer Nachbar

Geschichte Humboldt, der Name steht auch für Kunstraub und Nähe zur Revolution. Im Deutschen Historischen Museum zu Berlin erfahren wir nun endlich mehr darüber
Ausgabe 51/2019

An der Neubaufassade des teilrekonstruierten Berliner Stadtschlosses prangt der Name Humboldt in großen Lettern und spiegelt sich nachts in der Spree. Pünktlich zum 250. Geburtstag Alexander von Humboldts, der am 14. September 1769 in Tegel das Licht der Welt erblickte, sollte das Humboldt-Forum eröffnen. Aber auch diese wichtigste kulturpolitische Baustelle Deutschlands wurde nicht zum Stichtag fertig.

Das hat Folgen. Vis-à-vis steht das Deutsche Historische Museum plötzlich im Zentrum des ausgehenden Humboldt-Jahres – mit einer vergleichsweise kleinen Schau. Die Ausstellungsmacher mag so viel Aufmerksamkeit freuen – und doch ist es eine Überforderung, wenn der einkalkulierte kulturpolitische Kontext sich wider Erwarten nicht materialisiert. Doch der David im DHM besteht, auch ohne Goliath. Er besteht glänzend, obgleich die beiden Kuratierenden Bénédicte Savoy und David Blankenstein sich den Schwachstellen des Marketing-Konstrukts HUMBOLDT nicht widersetzen. Denn die Humboldts als große Geister zwischen Spätaufklärung und Biedermeier sind zwar Brüder und Zeitgenossen, aber keine politischen Zwillinge.

Der 1767 in Potsdam geborene Wilhelm steht dem preußischen Hof als verbeamteter Gesandter und Minister weit näher als der zwei Jahre jüngere Freigeist Alexander, der sich erst an seinem Lebensende als Vorleser des preußischen Königs verdingen muss, weil er für die jahrzehntelange Auswertung seiner großen amerikanischen Forschungsreise sein gesamtes Erbe aufgebraucht hat. Wilhelm tafelt 1813 nach der Niederlage Napoleons im Auftrag Preußens mit dem erzreaktionären Fürsten Metternich in Wien – wovon Prunkstühle zeugen. Alexander hingegen feiert mit seinem Lehrer und Reisebegleiter Georg Forster – dem Weltreisenden, Revolutionär und führenden Kopf der kurzlebigen ersten deutschen Republik in Mainz – Anfang Juli 1790 in Paris das erste Jubiläum der Revolution. „Der Anblick der Pariser, ihrer Nationalversammlung, ihres noch unvollendeten Freiheitstempels, zu dem ich selbst Sand gekarrt habe, schwebt mir wie ein Traumgesicht vor der Seele“, notierte er. Ein Gemälde Etienne Charles Leguays dieses „Schubkarrentages“, vertieft durch Forsters Erinnerungen aus dem Jahr 1790, gehört zu den Preziosen dieser Exposition.

Solche Differenzierung der Brüder gelingt jedoch zu selten. Auf der Objektebene suggeriert eine zentral präsentierte strahlende Prunkschale, die Kronprinz Friedrich Wilhelm 1817 an Alexander verschenkte, dass der jüngere Humboldt dem Thron fast so nahe gestanden habe wie sein Bruder.

Geburtstag hat nur einer

Warum aber musste es überhaupt eine solche „Doppelpack“-Ausstellung sein, der Kalender diktiert mit dem 250. Geburtstag Alexanders doch nur das Jubiläum des einen? Tatsächlich erlaubt der Zugriff auf die Lebenszeugnisse beider Humboldts ein Schwelgen in raren Fundstücken. Da sind Alexanders berückende Südamerika-Zeichnungen eines Faultiers oder Lamas und faszinierende Pflanzenabdrücke, seine enorm detaillierte botanische Tafel vom Chimborazo, die Gepäckpapiere seiner Einreise in die USA auf dem Weg zu Thomas Jefferson, ein Gruß Simón Bolivars an den „Vordenker der Unabhängigkeit Südamerikas“, Geruchsproben von säuerlich riechender Pulque und Fässer mit roter Chica-Farbe, die die Menschen am Orinoco zur Verzierung ihrer Haut benutzten. Wilhelm bietet erotisch aufgeladene Briefe und kluge Notizen aus dem Salon der Henriette Herz oder erstmals gezeigte Skizzen, die den 32-Jährigen im Baskenland zeigen – bestechende Fahndungserfolge der Kuratoren.

Der Nachteil dieser Humboldt-Kompilation: Manches kann nicht genügend eingeordnet werden. Wilhelm von Humboldts Großprojekt zum „Nationalcharakter der Völker“ – wäre hier nicht der Einspruch des hellsichtigen Forster vonnöten, der Wilhelm warnte, es sei „ein Unrecht“, Menschen in Schubladen zu stecken? Was Alexander betrifft: Hätten seine von Ludmilla Assing 1860 postum veröffentlichten radikalen Schriften, die im Preußen der Neuen Ära, zwischen konstitutionellem oder absolutistischem Regime, ein politisches Erdbeben auslösten, nicht Vorrang haben müssen vor manch mineralogischer Schrift?

Bei der wahren Flut von Humboldt-Biografien wäre ein Verweis auf Alexanders bipolare Schwankungen zwischen tränenreichen Depressionen und genialem Redefluss „im Galopp eines Rennpferdes“ (Forster) ebenso hilfreich gewesen wie ein Hinweis auf die Huldigungen an Wilhlem als bestem aller Gesprächspartner und „ideales Medium“ (Goethe) durch Schiller, Herder oder die Schlegels.

Doch die ausgelegten kritischen Fährten sind ein kulturpolitischer Paukenschlag. Eine „Ausweitung der Denkzone“, wie das Kuratorenteam das Herzstück der Ausstellung betitelt, die das verspätete „Humboldt-Forum“ bislang beharrlich zu verweigern scheint. Savoy, die schon 2017 lautstark aus dessen Expertenbeirat austrat, will das Kind nicht erneut mit dem Bade ausschütten. Doch mag die Pariser Professorin mit zweitem Lehrstuhl in Berlin auch beteuern, es sei „nicht ihre Absicht, an irgendwelchen Bildern zu rütteln“: Das gigantische Haupt eines der vier Rösser, die Johann Gottfried Schadow 1793 für die Quadriga auf dem Brandenburger Tor schuf, nimmt sich aus wie ein trojanisches Pferd. Savoy, die über Napoleons Kunstraub in Deutschland promovierte, kehrt so zu ihrem Thema zurück, zur „Translokation“ von Kunst als Instrument imperialer Herrschaft. Der Verweis auf das „kriegsbedingte“ Hin und Her der Berliner Quadriga zwischen Preußen und Frankreich öffnet den Blick für Fragen der Rückgabe kolonialen Raubgutes, die Emanuel Macron – beraten von Savoy – anders beantwortet als die deutsche Kulturpolitik mit dem Forum und seinen „ethnologischen“ Altlasten.

Blind vor Sammelwut?

Savoy führt vor Augen, wie Alexander von Humboldt im Jahre 1807 im französisch besetzten Berlin seinen Pariser Freund Dominique-Vivant Denon – den Trophäenjäger Napoleons, der in ganz Europa nach Kunstschätzen für den Pariser Louvre fahndet – zu Schadow und den Berliner Kulturschätzen führt. Naiv? Wissend? Oder wie die international bestens vernetzten Humboldts altägyptische Artefakte für Preußens Krone beschaffen halfen – Glanzstücke der Ausstellung, die die Geburtsstunde der Berliner Museumsinsel markieren. Wie intensiv beide dieses „Bildungs-Kapital“ gefördert haben, belegen Museumspläne und -schriften. So wird der Beginn einer Entwicklung deutlich, die in Form von Rückgabeforderungen eine gewaltige Hypothek darstellt, siehe Nofretete oder Pergamonaltar.

Wer dem informativen Audioguide folgt, bemerkt, dass Alexander von Humboldt einen Ohrpflock, mit dem man sich im mexikanischen Michoacán schmückte, als Armreif registrierte. Sammelte er zu viel, verlor den Überblick? Seine wunderbar gezeichneten Karten, die nach über 200 Jahren noch so farbenfrisch leuchten, all die Fundorte von Gold, Silber und Kupfer auf dem südamerikanischen Kontinent, ergänzt um die verworrenen Transportwege: Waren sie nur von wissenschaftlichem Wert? Die vorbildlichen Inklusions-Tafeln sind sehr klar: „Die Europäer nahmen den Menschen in den Kolonien viel weg. Wilhelm und Alexander halfen den Europäern dabei, mit dem Handel immer reicher zu werden.“

Aus ethischen Gründen habe man die Präsentation von Gebeinen bewusst unterlassen. Eine Fotografie des „Atures-Schädels“, den Alexander 1805 seinem Lehrer Blumenbach übersandte, muss genügen. Humboldts Reisenotizen berichten ganz unbekümmert vom „größten Ärgernis unseres indianischen Führers“. Anlässlich ihrer nächtlichen Mitnahme räumt er ein, man habe die Gebeinkörbe kaschieren müssen, „da uns der abergläubische Widerwillen der Indianer gegen einmal beigesetzte Leichen wohlbekannt war“.

Man kann sich ausmalen, wie solche Zitate, Exponate, Fakten an den Nerven derer zerren, die sich sehr bewusst für den Namen Humboldt-Forum entschieden haben, da das unumstrittene Bildungsstreben der Humboldts alles andere zu überstrahlen schien. Eine Illusion, wie Savoy nun mit Exponaten untermauert. Es ist eine der bedeutendsten Ausstellungen des Jahres, weil sie auf den Kern des kulturpolitischen Selbstverständnisses dieses Landes zielt. Dass Savoy dafür Alexander von Humboldts Schreibtisch und das Manuskript seines Hauptwerkes Kosmos nach Berlin geholt hat, lässt manchen aufschrecken: Das alles war in Paris? In Berlin hatten wir das nicht einmal bemerkt.

Info

Wilhelm und Alexander von Humboldt Deutsches Historisches Museum Berlin bis 19. April 2020

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