Was ist in welcher Kiste?

Ethnologie Das Humboldt-Forum zeigt nur einen Bruchteil seiner Objekte. Im Depot sind 500.000 Stücke, teils unsachgemäß gelagert
Ausgabe 48/2020

Der Jubel erinnert ein wenig an den Schaltraum der NASA bei einem geglückten Weltraummanöver, als Mittwoch vergangener Woche die Videoverbindung zwischen Berlin und Nebraska endlich steht. Tagelang hatte Ilja Labischinski versucht, seine Ansprechpartnerin Wynema Morris in der Reservation der Omaha First Nation zu erreichen. Dabei hat der Mitarbeiter des Ethnologischen Museums Berlin-Dahlem keine Zeit zu verlieren: Es geht um die Fertigstellung der gemeinsamen Omaha-Ausstellung im Humboldt-Forum, selbst wenn angesichts von Corona der größte kulturpolitische Prestigebau der Bundesrepublik Mitte Dezember vorerst nur digital eröffnet wird. Auch Wynema Morris, Geschichtsdozentin des Nebraska Indian Community College, ist froh, dass der Kontakt endlich gelungen ist – trotz eines Eissturms, der über die Plains fegte und die Telefonleitungen tagelang blockierte.

Dann geht’s rasch zur Sache, genauer um die Frage, wie man die 64 Kulturzeugnisse der vor-europäischen Bewohner Nebraskas – rare Objekte, die der umtriebige Omaha Francis La Flesche vor 120 Jahren bei seinen Landsleuten im Auftrag des Berliner Völkerkundemuseums erworben hatte – auch für sehbehinderte Besucher im Humboldt-Forum präsentieren kann. Das Problem: Die in Berlin so erwünschte Barrierefreiheit kollidiert mit einem Tabu der Omaha, das das Berühren der Adlerfedern am Kopfschmuck eines Chiefs verbietet. Im Omaha-Projekt der Berliner ist jedoch vorgesehen, dass sehbehinderte Menschen die in 3-D nachgebildeten Federkronen ertasten. In dem taktilen Bild seien die Adlerfedern natürlich synthetisch nachgebildet, stellt Ilja Labischinski noch einmal klar, aber das Don’t touch! wird dennoch ausgehebelt. Wie kommt man heraus aus dieser Zwickmühle? Zum Glück sorgt Wynema Morris für schnelle Entwarnung: Da es um Museumszwecke ginge, habe die Community ihren Segen gegeben.

IT-Probleme und Insektenfraß

Wie groß der kulturelle Gap zwischen deutschen Museums-Ambitionen und den Interessen der Herkunftskulturen tatsächlich ist, wurde schon vor zwei Jahren deutlich, als Wynema Morris mit einer Omaha-Delegation das Dahlemer Museumsdepot besuchte. Dabei wurden bald die „Begehrlichkeiten“ spürbar, die viele ethnologische Museen insgeheim so sehr fürchten. „Irgendjemand sagte spontan: Also diese Sachen wollen wir zurück“, erinnert sich Morris. „Doch dann holte der Enkel von La Flesche einen alten Kaufvertrag heraus, in dem stand, dass unsere Vorfahren all das an das deutsche Museum verkauft hatten. Danach herrschte bei uns erst einmal lange Stille. Aber gut, das war dann geklärt!“

Vielleicht ist das die schwierigste Aufgabe in den ethnologischen Museen heute: Ansprüche zurückzuweisen, wenn juristisch alles „sauber“ ist. Ist das auch moralisch vertretbar?

„Die Omaha haben gar nicht gewusst, dass diese Sammlung hier ist. Wir haben den Kontakt gesucht“, meint Lars-Christian Koch, der Direktor des Berliner Ethnologischen Museums dazu. „Die Herkunftskulturen können dadurch vieles aufarbeiten. Sie möchten aber auch in den großen Museen repräsentiert werden, weil das wichtig ist für ihre Identität. Diese Aushandlungsprozesse werden in Zukunft wichtig sein.“

Doch diese Zukunft steht in Deutschland auf tönernen Füßen. Denn selten sind Herkunft, Erwerb, der Weg in die Museen und das Nachleben der Objekte in den Sammlungen durchschaubar. Das Berliner Humboldt-Forum ist die große Ausnahme, weil hier für Pilotprojekte wie die Omaha-Präsentation explizit Kulturzeugnisse ausgewählt wurden, deren Provenienz halbwegs „sauber“ scheint. Es ist die Spitze des Eisbergs, denn nicht einmal zwei Prozent der Bestände des Berliner Ethnologischen Museums werden künftig im nachgebauten Stadtschloss der Hohenzollern ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, die Masse an Kulturzeugnisen aber – über 98 Prozent, das sind rund 500.000 Objekte – verbleibt unsichtbar in den Depots in Berlin-Dahlem. Dort aber, im Depot, wird die Zukunft der deutschen Museen mit ethnologischen Wurzeln entschieden. Und dort sieht es finster aus. Für Berlin-Dahlem räumt dies selbst der zuständige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ein. „Was das Ethnologische Museum betrifft, ist vollkommen klar, da muss wirklich was kommen“, erklärte Hermann Parzinger angesichts einer kritischen Durchleuchtung seiner Stiftung durch den Deutschen Wissenschaftsrat im Sommer dieses Jahres. „Wir müssen die Sammlung besser zugänglich machen, auch die Unterbringung. Da gibt es zum Teil Schädlingsbefall, das ist schon kritisch.“

Wer sich jedoch im Depot umsehen will, bekommt selten eine Zusage. In Berlin stehen einem Besuch derzeit offiziell Umbaumaßmahmen, gefährliche Konservierungsgifte, die die Artefakte vor Insektenfraß schützen sollten und erst einmal entsorgt werden müssen, sowie IT-Probleme in der Datenauskunft entgegen.

Setzt sich da eine „hidden agenda“ fort, die seit Jahrzehnten den Umgang deutscher Museen mit den Ansprüchen der Herkunftskulturen bestimmt? Das jedenfalls vermutet die bekannte Kritikerin des Humboldt-Forums Bénédicte Savoy, die Frankreichs Präsident Macron in Restitutionsfragen berät. „Das Problem ist historisch“, so die These der Historikerin. „Man hat Mitte der 1980er Jahre beschlossen, nicht transparent zu werden. Die westdeutschen Museumsdirektoren haben eine Strategie entwickelt – eine Art vertrauliche Handreichung – und gemeinsam beschlossen: Wir werden Objektlisten nicht veröffentlichen. Man wollte keine ‚Begehrlichkeiten‘ wecken. Das heißt, sie haben gemauert. Es gibt bis heute keine Listen und Kataloge mehr von diesen Sammlungen.“

Doch die bewusste Abschottung wirkte sich auch auf den Zustand der Sammlungen aus. Was nicht mehr in einer Ausstellung gezeigt werden soll, wird angesichts beschnittener Budgets und Personalstellen auch nicht mehr regelmäßig durchgesehen und gepflegt. Was nicht katalogisiert werden muss, verliert an Priorität. So ist dem Ethnologen Andreas Schlothauer im Depot in Berlin-Dahlem aufgefallen, dass unter den zweitausend Federschmuck-Objekten, die er dort für ein wissenschaftliches Projekt fotografierte, erstaunlich viele von Insektenfraß befallen waren. Oder dass von den 40 afrikanischen Figuren der „Bangwa-Gruppe“, die 1899 aus der deutschen Kolonie Kamerun nach Berlin gelangt war, viele fehlten. „Immerhin ein Schwund von 16 Stücken“, wie Schlothauer anhand der Eingangsdokumente ermittelte. Tausch? Verkauf? Oder Diebstahl? In vielen Museen – auch im Münchner Museum Fünf Kontinente – weiß man nicht einmal, wie viele Stücke man besitzt. „Unsere Inventur läuft immer noch“, räumt die Münchner Museumsdirektorin Uta Werlich ein. „Wenn wir im bisherigen Tempo weiterarbeiten, brauchen wir noch zehn Jahre.“

Im Hamburger Museum am Rothenbaum (MARKK) sucht man verzweifelt nach „verräumten“ Beständen, die bei der Asbestentsorgung nicht genau „verstandortet“ wurden. „Es wurde nicht genau festgehalten, was in welcher Kiste ist“, beklagt die Direktorin Barbara Plankensteiner die Altlasten. „Und damit kämpfen wir bis heute und müssen halt oft suchen.“

40 Jahre hintendran

Der größte Kollateralschaden macht sich jedoch an der blockierten Digitalisierung fest, wie Bénédicte Savoy sagt: „Anfang der 1980er Jahre, wo andere Länder wie die Schweiz, Frankreich und Großbritannien angefangen haben, mit Computern systematische Inventare zu machen, haben die westdeutschen Museen damit aufgehört.“ Das heißt: 40 Jahre Entwicklung, 40 Jahre elektronische Erfassung von Beständen seien so verpasst worden. „Das kann man nicht in fünf Minuten aufholen.“

Die deutschen ethnologischen Museen in die digitale Zukunft zu beamen, ist eine gigantische Aufgabe. Ein Vergleich: Das Pariser Musée du quai Branly investierte bis 2006 in die komplette digitale Erfassung seiner Bestände 31 Millionen Euro, seitdem ist es online transparent auch in Senegal oder Haiti. In Deutschland ist derzeit überall nur von Pilotprojekten die Rede. Ein Anfang, gewiss. Tatsächlich aber brauchte man ein dringendes Beschleunigungsprogramm, wollte man die verborgenen Schätze im Depot tatsächlich mit ihren Herkunftsgesellschaften teilen.

Frank Vorpahl kuratierte unter anderem die Georg-Forster-Ausstellung in Wörlitz (2018) und den Cook-Forster-Pavillon in Tonga (2019). Seine Kulturdokumentation Bedrohte Schätze im Depot wird am 28. November um 19.20 Uhr auf 3sat ausgestrahlt

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