Das Buch, das im Englischen den weniger harmlosen Titel Hitler’s Furies trägt, erzählt folgende Geschichte: Im Sommer 1942 traf die 23 Jahre alte Erna Petri auf dem Gut Grzenda nahe Lemberg ein, dem heutigen Lviv in der Ukraine. Ihr Mann und sie hatten vom Rasse- und Siedlungshauptamt der SS, deren Elitegemeinschaft sie angehörten, den Auftrag bekommen, dieses von großen Ländereien umgebene Gut zu bewirtschaften. Die einfache Bauerntochter aus Thüringen war plötzlich zur stolzen Herrin über alten Adelsbesitz geworden – ein vermeintlicher Rasseadel hatte es möglich gemacht. Weit entfernt von der provinziellen Enge ihres Heimatorts bot sich der Gutsbesitzerin Erna Petri eine Macht, die so grenzenlos schien wie der Raum im europäis
uropäischen Osten, den die Nationalsozialisten ab 1939 zu erobern begonnen hatten. Sogar das Richten über Leben und Tod maßte sie sich an.Manchmal verirrten sich jüdische Flüchtlinge in die Nähe des Guts, die an der nahe gelegenen Bahnstrecke aus den Zügen gesprungen waren. Ernas Ehemann Horst hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sie aufzugreifen und zu erschießen. Das gehörte zum rassistischen Ethos eines Nationalsozialisten, der Hans Grimms Volk ohne Raum gelesen und sich an Walther Darrés Fantasien vom deutschen Siedler im kolonisierten Osten ergötzt hatte. Er mordete ohne Befehl und Funktion, auch ohne den Gruppenzwang in jenen SS-Einsatzgruppen, Polizei- und Wehrmachteinheiten, über deren Mordpraxis wir mittlerweile viel wissen. Und Erna machte es ihm nach: Als sie eines Tages auf dem Weg von der Stadt nach Hause sechs jüdischen Kindern begegnete, die – kaum bekleidet, halb verhungert und völlig erschöpft – sofort als Flüchtlinge erkennbar waren, nahm sie sie mit nach Hause, beruhigte und versorgte sie. Offenbar aber hatte Petri die Politik des Regimes (und ihres abwesenden Manns!) Juden gegenüber längst verinnerlicht. Also nahm sie wenig später die Pistole, die ihr Vater ihr für den „wilden Osten“ geschenkt hatte, führte die Kinder zu einem Graben und schoss ihnen der Reihe nach ins Genick.Die Morde blieben lange unbekannt und ungeahndet, 1961 kamen sie in der DDR ans Licht. Horst Petri wurde 1962 hingerichtet, seine Frau zu lebenslanger Haft verurteilt – weil sie durch die verrohte SS-Männergemeinschaft manipuliert worden sei. Das Urteil wurde nach der Wiedervereinigung von bundesdeutschen Gerichten bestätigt, erst 1992 wurde Erna Petri entlassen. Auch wenn die fragwürdige Verfahrensweise der Verhöre und erpressten Geständnisse in der ostdeutschen Diktatur zu berücksichtigen ist: Die US-Historikerin Wendy Lower geht davon aus, dass die Geschehnisse sich so zugetragen hatten, wie sie durch die Aussagen ehemaliger Zwangsarbeiter rekonstruiert werden konnten.KolonialrassismusErna Petri verkörpert für Lower eine idealtypische Vertreterin von Hitler’s Furies, jenen Frauen also, die unmittelbar in die nationalsozialistische Mordpolitik einbezogen waren. Lower versteht den Holocaust in Osteuropa als eine rassistische Kolonialpolitik, deren zwei Seiten der „Säuberung“ (Massenmord und Germanisierung) unlöslich miteinander verbunden waren. Dieser Prozess vollzog sich nicht nur und nicht einmal zum größten Teil in Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau oder Bełżec, sondern überall: in großen und kleinen Lagern, in Wäldern, an Straßen, auf den Plätzen der Dörfer und Städte und auf den Balkonen der Gutshäuser. Eine Landschaft aus Massengräbern, durch die Liebespaare aus dem Reich spazierten und in der Familien picknickten. Die Grenze zwischen Entvölkerung und Besiedlung verschwamm bis zur Unkenntlichkeit. Um das zu beschreiben, verwendet Lower häufig ein Vokabular, das Analogien zu anderen Kolonialgenoziden oder auch zum selbstherrlichen Siedlertum an der frontier im amerikanischen Westen nahelegt, was die Analyse mitunter seltsam unspezifisch erscheinen lässt.Die Willkürherrschaft der Petris auf dem Gut in Ostgalizien fügt sich ins Muster des Holocaust als eines kolonialrassistischen Verbrechens, das keinen Raum unberührt ließ und keine Unbeteiligten kannte. Gewalt- und schuldfreie Sphären, häufig weiblich konnotiert, gab es auch im Privaten nicht mehr: „Häusliche Gewalt“, schreibt Lower, „bekam im ‚Dritten Reich‘ noch eine ganz andere, weiter reichende Bedeutung.“ Der Genozid zog Frauen oft „auf ganz spontane, unvermittelte Weise in seine Operationen“ hinein. Deswegen, so argumentiert Lower, hätten gerade SS-Ehefrauen oder auch die Sekretärinnen hoher Besatzungsfunktionäre durch ihre Nähe zu den gewalttätigen Männern auch selbst Gelegenheit zum Töten erhalten.Diese Stufenfolge, in der andere Frauengruppen wie KZ-Aufseherinnen, Krankenschwestern oder das weibliche SS- oder Wehrmachtspersonal weiter unten rangieren, erscheint problematisch. In Erna Petri erkennt Lower „das Pendant des Vollstreckers“, eine Frau, die an der Seite des gewaltsamen Manns – und motiviert durch ihn – tötete. Sie ruft damit alte Schreckbilder soziopathischer Gewalttäterinnen wie der KZ-Aufseherinnen Ilse Koch oder Irma Grese auf. Diese Frauen galten nach dem Krieg gerade daher als höchste Verkörperung des Bösen, weil sie die vermeintlich unpolitisch-unschuldige Weiblichkeit verraten hätten. Zwar will Lower diesen „sensationsheischenden Geschichten von weiblichem Sadismus“ gerade ihre Analyse einer breiten weiblichen Beteiligung am Holocaust entgegensetzen – die Geschichte von Erna Petri (der Lower weitere hinzufügt) sticht aber doch wie ein Inbild weiblicher Grausamkeit hervor.Als Ärztinnen und vieles mehrDabei ist das Verständnis eines Holocaust, der überall stattfand und von kolonialer Siedlungspolitik nicht zu trennen ist, prädestiniert, die Vielfalt weiblicher Funktionen in den Blick zu bekommen. Lower nennt sie auch alle. Im „Maschinenraum“ des Genozids halfen Frauen an unterschiedlichen Stellen: als Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Ansiedlungsbetreuerinnen, als Ärztinnen oder Krankenschwestern im Rahmen der Euthanasie, als KZ-Aufseherinnen, SS-Angestellte oder Wehrmachtshelferinnen. Es erscheint befremdlich, hier eine Rangfolge hin zur unmittelbaren Gewaltanwendung zu erstellen, deren letzte Stufe der Genickschuss darstellt.Die Täterinnengeschichte, die seit den 90er Jahren zahlreiche dieser Handlungsräume ausgeleuchtet hat, scheint mit der Studie von Wendy Lower auf dem Höhepunkt und vielleicht an ihrem Ende angekommen; näher lässt sich der weiblichen Gewalt im Nationalsozialismus nicht mehr kommen. Jetzt müsste es darum gehen, den Holocaust konsequent als ein Verbrechen zu beschreiben, das von beiden Geschlechtern gemeinsam getragen und begangen wurde. Die Geschichte vom Morden der Petris ist dafür ein Beispiel.
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