Ossis sind auch nur „Kanaken“

Literaturessay Domenico Müllensiefen ist Facharbeiter für proletarische Lakonie. Sein Roman „Aus unseren Feuern“ zeigt die Kernschmelze einer Gesellschaft von Gewinnern, Verlierern und Rächern.

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"Zonen-Gaby": weiß, weiblich, ostdeutsch - geht es auch etwas komplexer? Twitter-Meldung der Titanic zum 40. Jubiläum des Blattes.

Thomas ist tot. Sein alter Freund Heiko muss ihn begraben. Nach einer Lehre und der Arbeit als Elektriker und Pizzabote ist Heiko im Bestattungswesen gelandet. Gerade als er selbst die täglichen Leichen im hektischen Betrieb der Branche immer mehr als Waren transportieren und behandeln muss, zwingt ihn der Tod von Thomas zur Rekapitulation seines Lebens.

Die Herrschaft des Marktes über alle Lebensbereiche und selbst über das Sterben hatte der tote Thomas schon lange vorher erfahren müssen: als Fleischer und gesetzter Erbe des Familienbetriebs ist seine Lebensperspektive von einem konkurrenzlos billigen Schlachthof-Großunternehmer aus dem Westen zunichte gemacht worden. Wer sich in der deutschen Land- und Viehwirtschaft nur ein wenig auskennt, ahnt schnell, welche reale Person hinter dem „Schalker“ Strippenzieher steckt: Fleischbaron Clemens Tönnies, der die Kleinbetriebe von Schlachtung und Vertrieb seit 1990 auch im „Osten der Republik“ mit seinen berüchtigten Methoden der Massenfleischverarbeitung und niedrigsten Supermarktpreisen aufgerollt hat.

Abteilung Abriss – ostdeutsche Karrieren der Neunziger und Nullerjahre

Das Trio der Freunde, allesamt in der DDR der 1980er-Jahre geboren, wird von Karsten komplettiert. Karsten arbeitet auf dem Bau, Abteilung Abriss, seit jeher der gröbste, schmutzigste und schlechtbezahlteste Arbeitsgang, den man auf einer Baustelle erwischen kann. Deshalb machen ihn in Deutschland die Bulgaren, Rumänen und andere Osteuropäer. Karsten dagegen ist als Bester seines Gesellenjahrgangs und passionierter Sprengprofi in die USA gegangen. Er hat als einziger seinen Traum verwirklicht – allem Anschein nach.

Doch letztlich erweisen sich die Träume aller drei Freunde als leere Versprechen des Realkapitalismus. Sie bleiben die Kinder von Ex-DDR-Bürgern, denen das Leben schon übel mitgespielt hatte und deren persönliche Brüche und Unsicherheiten ihre Kindheit und Jugend prägten. Die Abfolge der Stadien von Erwartung, Enttäuschung, Frustration, Trotz und Aggression lassen diese junge ostdeutsche Generation ebenfalls an ihrer vollwertigen Gesellschaftszugehörigkeit zweifeln. Anders als bei ihren Eltern aber scheint es für die späten Kinder der DDR keinerlei Zurückhaltung in der Reaktion mehr zu geben – auf das Stadium der Aggression folgt bei ihnen unweigerlich deren Umsetzung in selbstzerstörerische Abrechnung und Rache. So gewinnt die Handlung im Roman mehr und mehr an Spannung und läuft buchstäblich auf eine Explosion zu.

„[…] unsre einheimischen Barbaren treibt nicht allein dieselbe Gier, sondern auch ein tiefes Gefühl erlittenen Unrechts und deshalb auch des Hasses und der Rache. Das ist die Erklärung, weshalb Alarich bei der Plünderung Roms seinen damaligen Barbaren befahl, alle monumentalen Gebäude zu schonen, und, weshalb die heutigen Barbaren diese in ihrem eignen Vaterlande niederbrennen."

Karl Rodbertus, Sozialökonom, über die Pariser Kommune (1871)

Die „Karrieren“ der drei Freunde lässt der Leipziger Romanautor Domenico Müllensiefen durch den Erzähler Heiko in direkter, harter und schnörkelloser Sprache Revue passieren. Müllensiefen folgt mit den ihm eigenen Mitteln in vielem Clemens Meyer, dem Leipziger Schriftsteller-Original und Meister der schlichten Ambivalenz. Die Höhepunkte der manchmal fast schmerzhaft dokumentarischen Darstellung finden sich in der Beerdigungsvorbereitung von Thomas‘ Leiche durch Heiko und in der letzten, gewollt „traditionell“ ins Werk gesetzten Hausschlachtung eines Schweins in Thomas‘ abgewickelten Familienbetrieb – ein Jahrzehnt bevor der Bio- und Regionalboom diesen hätte retten können. Man merkt deutlich, dass Müllensiefen hier aus eigenen praktischen Erfahrungen schöpft, was dem Realismus und der Glaubwürdigkeit des Romans sehr zugute kommt. Er, der selbst Elektriker ist, Bestatter war und heute als Bauleiter arbeitet, kündigt seine Lesungen gern provokant an: „Heute geht es um etwas, das der größte Teil des Publikums gar nicht kennt: harte Lohnarbeit.“

Lieblingsfiguren: Fehlanzeige – ein Desillusionsroman ohne Happy End

Eine sympathische Identifikation mit den Romanfiguren ist nahezu ausgeschlossen – zumal wenn man sich vorstellt, aus welcher gesellschaftlichen Schicht der größte Teil des Lesepublikums wohl stammen wird. Heiko raucht Kette und klaut sich schon mal kurzerhand fehlende Einzelteile für sein Auto zusammen. Thomas findet irgendwann reichsbürgerliche Erklärungen für den westdeutsch initiierten und angeblich vom konzernfreundlichen Staat gewollten Untergang seines Betriebs. Und Karstens Faible für destruktive Problemlösungsstrategien ist unheimlich, ihm ist alles wert, gesprengt und zerstört zu werden.

Frauen finden alle drei gut, aber sie finden sie selten erfolgreich und dauerhaft. Eins wissen sie: die Studentinnen in der Moritzbastei – der bekannteste Leipziger Studentenclub in DDR-Zeiten, nach der „Wende“ oder wahlweise dem „Beitritt“ der DDR zur BRD zum „Kulturzentrum“ avanciert – wollen meist nichts mit ihnen zu tun haben. Tatsächlich haben die smarten Städter der Nullerjahre die aus dem Leipziger Umland wie dem Muldental angereisten Partygäste als „Mutantentaler“ verhöhnt; Proletarier und Landeier, die am Wochenende in die Clubs einfielen und weder „kultiviert“ waren noch hochdeutsche Anmachsprüche draufhatten. Die Tragödie von Ronny und Julia findet seither wohl noch seltener statt: es herrscht informelle Klassentrennung im berlinisierten Hypezig und Likezig.

Zusammen bilden die drei Freunde seit Kindheitstagen oft genug ein Trio infernale mit ausgeprägtem Hang zu Personen- und Sachbeschädigung. Sie verbrennen als Schüler Schulbücher, sprengen als Halbstarke Haltestellen in die Luft und saufen sich als Proleten langsam aber sicher das Hirn weg. Ein rauschhafter Ausflug nach Amsterdam wird zur Freundschaftserzählung schlechthin. Da ist kein Raum für die intellektuelle Durchdringung der Lebenswirklichkeit, für eine ausgeprägte Selbstbespiegelung, die dem literarischen Stück eine Moral in Form eines positiven Bildungsromans verleihen könnte. Aus unseren Feuern ist das, was der Titel verspricht und der rauchende weiße Mann mit „Na warte!“-Blick auf dem Titel signalisiert: hier drohen Wirklichkeiten jenseits der Erfüllung traditioneller bürgerlicher Sinnsehnsucht oder reformbürgerlich-elitärer Identitätskorrektheit.

Proletarische Wirklichkeit zerschmettert bürgerliches Gutmenschentum

Ob von Müllensiefens Roman eine Befruchtung der laufenden Diskurse von Klasse und Identität sowie des Primats des sozial-ökonomischen oder des identitär-intersektionalen Elements ausgeht, wird sich erweisen müssen. Man kann es ihm nur wünschen, denn seine ungeschminkten Perspektiven ergänzen die Debatte nicht nur, sie machen deutlich, wie viele Faktoren und Facetten eine Person ausmachen und das es vermessen ist, mit dualistischem Schwarz-Weiß-Denken endgültige Urteile zu fällen und Identität für eine simple (heute wieder vermehrt biologistische) Definitionssache zu halten. Wie groß die Erfahrungsschnittmenge des derben und zuweilen brachialen jung-ostdeutschen Arbeiter- und Kleinbürgermilieus mit den aufgeklärten und korrekten bildungsbürgerlichen Kreisen ist, wird eine der spannendsten Fragen der Rezeption des Buches. Denn von ihr hängt das Empathievermögen des Lesepublikums und dessen Verarbeitungsbereitschaft des Gelesenen ab. Es besteht natürlich die Gefahr, den Roman als weiteren Vertreter der ostdeutschen Selbstinszenierung abzutun, als Ausdruck des Sujets des „Jammerossis“. Doch gerade dann würde abermals nur eine Verlängerung derjenigen Diskriminierungserfahrungen zum Tragen kommen, die „den Ossis“ seit „der Wende“ im Nacken sitzen.

In der üblichen, suggestiven Behandlung des Themas im Fernsehen bemerken Ossis sofort: wer („ostdeutschen“) Dialekt spricht, ist meist der Unterlegene, der Untergebene, der Dumme, der vielleicht mal Putzige – aber nie der, den man ernstnehmen muss. Auch im täglichen Leben gilt natürlich: wer „etwas auf sich hält“, spricht hochdeutsch. Wem man den Dialekt zu sehr und die vermeintliche Herkunft anhört, der weicht vom „Normalen“ ab und macht sich potenziell sogar verdächtig. Schließlich sitzen die meisten „Nazis im Osten“ und wer weiß schon, welchen dieser komischen Ossis man da vor sich hat. Es ist solchermaßen taxierten Ossis seither – bewusst oder unbewusst – fühlbar, dass Klasse und Identität in dieser Form der subtilen Diskriminierung gar nicht voneinander getrennt werden können. Müllensiefen verleiht dieser Thematik von wahrgenommener und zugeschriebener Unterlegenheit und Ungleichheit in den Dialogen seiner Figuren situationskomisch und selbstironisch Ausdruck.

Gezielte paradoxe Interventionen: Selbstironie und Situationskomik

Als der Vater von Thomas wegen einem Schulstreich mit angeblich schwerwiegenden historisch-moralischen Implikationen vor dem aus Westdeutschland stammenden Schuldirektor sitzt: „‚Wo kommst du her?‘ ‚Ich denke, dass wir uns siezen sollten!‘ ‚Du bist kein Ossi!‘ ‚Wie bitte?‘ ‚Im Osten duzt man sich. Wo kommst du her?‘ ‚Aus dem Siegerland.‘ ‚Was?‘, brüllte Herr Meier. ‚Aus dem Siegerland!‘ ‚Und wo kommen wir her? Aus dem Verliererland? Sag mal, bist du noch ganz knusper?‘ ‚So heißt meine Heimat. Das Siegerland ist in Nordrhein-Westfalen.‘“ Als die drei erwachsenen Freunde später über eine Autoreparatur in die übliche Aufzieh- und Brüllspirale geraten: „‚Warum sollten wir das nicht können? Wir sind doch nicht dumm. Das ist einfachste Physik. Dafür braucht man kein Abitur.‘ ‚Wir haben auch kein Abitur!‘, schrie Thomas. ‚Weil wir es nicht brauchen!‘, brüllte Karsten zurück.“

„Wir waren deren Kanaken. Das wurde mir dann voll bewusst […]“

Figur Heiko, Aus unseren Feuern (2022)

Einer der Kernsätze des Romans fällt, als Heiko mit seinen Elektrikerkollegen auf zahlreiche Montageeinsätze nach Westdeutschland fährt. Das Pendlerdasein verwandelt sein Leben in ein beziehungszerstörendes Vegetieren und macht ihm klar, welche Rolle mindestens proletarische und prekäre Ostdeutsche in der wiedervereinigten Bundesrepublik spielen. „Wir waren deren Kanaken. Das wurde mir dann voll bewusst […]“ Er erkennt, dass die Ossis in den Augen der Wessis letztlich auch nur „Kanaken“ sind – und zwar besonders für diejenigen „Besserwessis“, die ökonomisch überlegen sind und sich auch für die Überlegenen halten.

Etwa für diejenigen, die – bis heute – im Osten einen Großteil der Chef- und Führungsposten besetzen und welche die abwertende Kanaken-Kategorie dafür nicht wörtlich in den Mund nehmen müssen. Das „passiert einfach“ und „ist so“. Die „Zonis“, wie sie früher in Westdeutschland hießen und die noch im November 1989 auf dem berühmten Cover der Titanic mit „Zonen-Gabys erster Banane“ verballhornt wurden („Gaby“ hatte man eine geschälte Gurke untergejubelt), wurden dem sowjetischen Imperium der Unterentwickelten und Bösen zugeordnet. Die Ostdeutschen hatte damit letztlich eine alte Diskriminierungskategorie der deutschen Geschichte getroffen: diejenige der osteuropäischen Untermenschen, die doch erst mit deutscher Kultur „aus Tieren zu Menschen gemacht“ werden müssten (der Ökonom und Soziologe Max Weber über Deutschlands polnische Staatsbürger 1895).

Der weitere Horizont: kulturelle und zivilisatorische Ausgrenzungsdiskurse

Doch weder wuchsen Ostdeutsche im sowjetischen Imperium in einer Art „heilen sozialistischen Familie“ auf, noch konnten „Westdeutsche“ unter der imperialistischen Vorherrschaft der USA eine Vorbildrolle des besseren Menschseins für sich beanspruchen. Der Zusammenbruch „des Ostens“ in den 1980er und 90er-Jahren ließ jedoch die im Kalten Krieg aus dem Kolonialismus tradierte Überlegenheitsmoral „des Westens“ siegen: nun gab es wieder Gewinner und Verlierer, Herren und Knechte, Lehrer und Schüler, Wertvolle und Billige – eben Überlegene und Unterlegene. Aus der begeisterten Stimmung des Dazugehörenwollens der Bewohner der „Ostzone“, der Stimmung, ab jetzt zu den Gewinnern zu gehören, entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit lediglich ein neukapitalistisches Ausbeutungsreservoir. Die „Anpassungsprobleme“ der Begeisterten, bald auch Ernüchterten bis Depressiven, bewältigte die wiedervereinigte Gesellschaft vorrangig mit dem Narrativ des „maroden Ostens“ und des demzufolge nötigen Wiederherstellens „blühender Landschaften“ – natürlich auf die kapitalistische, die Gewinner-Art: diejenige der Landnahme.

Der gesamte ehemalige „Ostblock“, von den Russen bis zu den Ostdeutschen, musste sich in jene Zuschreibungskategorie einreihen, die in der römisch-griechischen Antike noch vom Begriff der „Barbaren“ ausgefüllt wurde; die Kategorie, die mit den Bezeichnungen „Untermenschen“, „Polacken“ oder einfach „Flüchtlingspack“ im Nachkriegsdeutschland wiederkehrte und schließlich seit der westdeutschen Arbeitsmigration aus Italien, Griechenland und Türkei von den „Kanaken“ abgelöst worden war. Ist einer Kanake, weil er arm ist, oder ist er arm, weil er ein Kanake ist? Kanake jedenfalls ist ein Begriff mit kolonialer Vorgeschichte, der mit den Konnotationen des Fremden, Bedrohlichen, Faulen, Unzivilisierten, Minderwertigen, Stumpfen und Untertänigen aufgeladen ist – Zuschreibungen, die heute immer noch dem „Ossi“ oder gleich dem „Jammerossi“ seinen abwertenden Klang verleihen.

Der Typus des ostdeutschen Kanaken-Nazis

Der verzweifelte Versuch der 1990er-Jahre, sich von neuer Unsicherheit sowie dem eigenen Kanakenstatus im Ossi-Wessi-Diskurs durch den Angriff auf die „eigentlichen Kanaken“ und andere Minderheiten zu befreien, ging gründlich schief. Der Typus des Proleten-Kanaken-Nazis wurde geschaffen, der braune, pöbelnde, schwurbelnde BRD-Feind irgendwo im Minderlohn-Osten, kurz vor den Billiglohn-Polacken. Er beschäftigt uns bis heute, auch wenn sich sein Vorkommen schon länger nicht mehr nur auf ostdeutsche Regionen beschränkt.

Das Gefühl der Minderwertigkeit, der Sprachlosigkeit, des Abgehängt- und Ausgeschlossenseins und v.a. des täglichen Windmühlenkampfes lässt die Zahl der Verlierer und derjenigen, die Angst vorm Verlieren haben, steigen. Zu den gesellschaftlichen Gruppen der Gewinner und Verlierer gesellen sich die Rächer, denen die hasserfüllte Rache über jeder „rationalen“ Begründung steht – sie kultivieren die reichlich vorhandenen Schulderzählungen und überwinden ihre Abwertungserfahrungen damit, sich nach dem Freund-Feind-Schema zum Akteur einer Widerstandsgeschichte zu stilisieren.

Barbarenstolz: das widerständige Dunkeldeutschland

Rächertypen sind an dem Punkt, wo ihnen die Wiedereingliederung in eine Gemeinschaft der Gleichwertigen unmöglich, ja nur noch wie Hohn erscheint. Das macht sie zu trotzigen Außenseitern, die die gängigen Selbstfindungs- und Selbstinszenierungsrituale nicht nur als Lügen und Heuchelei „entlarvt“ haben. „Dunkeldeutschland“, noch so ein Schimpfwort aus den Neunzigern, ruft mancherorts in Ostdeutschland inzwischen Stolz statt Scham hervor und wird als Selbstzuschreibung zur Schau getragen. Es ist die Selbstinszenierung grimmiger Überlegenheit des Willens und einfacher Erklärungen. Hier schämt man sich nicht mehr der „ostdeutschen“ Dialekte, die einstmals die Herkunft und die vermeintliche Unterlegenheit äußerlich belegten, hier sind sie Ausweis der Zugehörigkeit und Gemeinschaftsidentität und werden zelebriert.

Der angedeutete Exkurs in die weiteren Interpretationshorizonte zeigt, dass Domenico Müllensiefens Aus unseren Feuern nicht nur eine ostdeutsche Geschichte erzählt, Ost-West-Debatten aufwärmt oder Nostalgie und Rechtfertigungen bedient. Mit seinen genauen und feinen Beobachtungen legt er offen, auf welche Entwicklungen sich eine Gesellschaft gefasst machen muss, die ihren kapitalistischen Modus von Macht-, Wohlstands- und Gerechtigkeitsverteilung verdrängt und sich stattdessen in wohlfeilen bürgerlichen Respektsdiskursen gefällt.

„Es gibt Menschen, die sind an logischen Dingen nicht interessiert, z. B. Geld. Man kann sie nicht kaufen, einschüchtern, zur Vernunft bringen oder mit ihnen verhandeln. Einige Menschen wollen die Welt einfach nur brennen sehen.“

Butler Alfred über den Joker in dem Film „The Dark Knight“ (2008)

Die Verlierer dieses zynischen Spiels treibt irgendwann nicht mehr die Gier oder der Wille zur Zugehörigkeit an. Sie sehen ihre Machtlosigkeit ein und entscheiden sich für das letztmögliche Fanal der Machtlosen in einer individualistisch eingefrorenen Gesellschaft: Verachtung des Selbst, Hass auf den Nächsten und rücksichtslose Gewalt. Auf diese Ebene fallen die Figuren in Müllensiefens Roman noch nicht ganz zurück. Viel Anlass zur Hoffnung geben ihre Entwicklungen aber genauso wenig. Wir sollten seinen literarischen Weckruf nicht überhören.

Domenico Müllensiefen: Aus unseren Feuern. Roman, 336 Seiten, kanon verlag (16.2.2022), € 24,00 (D) / € 24,70 (A), ISBN 978-3-98568-015-3.

Der Essayist: Frank Fehlberg, in der DDR geboren (Jahrgang 1981), ist Historiker und Ökonom und lebt in Leipzig. Er wuchs überwiegend auf dem Dorf und in einem ostdeutschen Pfarrhaus auf. Seine Mutter stammt aus dem Leipziger Arbeitermilieu. Dem Vater waren aufgrund seiner Herkunft aus einer protestantischen Pfarrdynastie staatliches Abitur und Studium verboten. Als seine Familie 1989 vor dem Mauerfall für einen Familienbesuch nach Westdeutschland ausreisen durfte, war der kleine Frank überwältigt und wollte im Konsumparadies des Westens bleiben. Doch der reformorientierte Pfarrer kehrte zur Überraschung der DDR-Behörden mit der Familie in sein Heimatland zurück.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Frank Fehlberg

Historiker und Sozialwissenschaftler

Frank Fehlberg

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