Vom Wettbewerb zum Weltbürgerkrieg

Kapitalismus Die Welt, ein einziger Kampfplatz? Was daran relativ richtig ist und absolut nicht stimmt

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Prolog

Wir sind reich. Uns geht es gut. Ihnen nicht? Sie spüren einen unangenehmen Existenzdruck? Sie haben einen Kloß im Hals, wenn Sie an Ihre Zukunft denken? Sie überlegen, ob Sie Kinder in diese Welt setzen können oder nicht? Sie sind gar arbeitslos? Sie gehören offensichtlich nicht zu uns. Sie haben unwirtschaftliche Entscheidungen getroffen, haben keinen Geschäftssinn, kein Durchsetzungsvermögen, keine richtige Arbeitsmoral. Ja, vermutlich sind Sie einfach nur faul. Sie wollen Ihren Beitrag zu unserer Erfolgsgeschichte nicht leisten. Sie sind nicht wir.

So unter uns: Jeder Wettbewerb produziert Verlierer. Ein wirtschaftliches Wir kann es im Wettbewerb nicht geben. Es liegt in der Eigenverantwortung jedes Einzelnen, ob er zu uns gehört. Voraussetzung für Ihre Teilnahme an unserem Wohlstand ist deshalb nicht Ihre Zugehörigkeit zu uns. Voraussetzung ist der Grad Ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Wir brauchen Gewinner, ab dem vierten Platz sind die anderen doch nur mitgelaufen.

Sie haben das Rennen an einer schlechten Position begonnen? Ach, tun Sie nicht so moralisch. Die Welt ist ein Schlachtfeld! Und Chancengerechtigkeit ist immer noch die Chance auf Gerechtigkeit…

Das trügerische Wir

Ein Gespenst geht um auf der Welt – das Gespenst des Wettbewerbs. Seine Existenz stellt niemand in Frage. Keiner kann ihm entkommen. Die Erfolglosen fürchten es, die Erfolgreichen beten es an. Sein Wirkungskreis ist der bis in den kleinsten Welt- und Lebenswinkel dringende wirtschaftliche Druck, sein Prinzip die Konkurrenz, sein letzter Zweck der Profit. Inmitten des Überflusses an materiellen Möglichkeiten und Arbeitskraft lautet die Parole Knappheit.

Nur in einer Beziehung macht das Gespenst alle zu einem Wir: Die Gesellschaft ist ein Markt und wir alle sind seine Teilnehmer. Weltorganisationen, Staaten, Konzerne, Gewerkschaften, Ökogenossenschaften und selbst der autonome Aussteiger – sie alle sind dem sozialen Ordnungsprinzip des Wettbewerbs unterworfen. Es mag politische Umfelder geben, man denke an den „europäischen Sozialstaat“, wo es gedämpft oder gar erträglich erscheint. Ausgeschaltet ist es niemals.

Marx, ein Anhänger des Wettbewerbs?

Dieses unsichtbar wirkende Wesen „der Wirtschaft“ ist doch nur der Gott der Kapitalisten, möchte man entgegnen. Wenn auch einer, von dem der einzelne Kapitalist wünscht, er möge ihn bitte nicht allzu sehr heimsuchen. Denn entgegen der alten Devise von Adam Smith, dass Eigennutz und Wettbewerb mit „unsichtbarer Hand“ zu Wohlstand führen, weiß jeder Marktteilnehmer sehr genau: Dieses Versprechen trifft im Hier und Jetzt nicht auf alle zu. Die kapitalistische Verbrüderung hat noch nicht stattgefunden. Und doch entkommt der größte Glaubensverweigerer nicht den Fängen des ökonomischen Individualismus, der allein mit betriebswirtschaftlichem Partikularismus das Wohl des Ganzen erreichen will.

Karl Marx erkannte den Wettbewerb auf seine Weise als notwendig und zielführend an. Allein schon deshalb, weil damit die Revolution der eigentlichen Wohlstandsproduzenten oder anderweitig Ausgebeuteten schneller eintreten würde. Seine von ihm postulierte Konkurrenz der Klassen kam jedoch nie über den Klassenindividualismus hinaus. Marx wünschte sich die Arbeiter als geschlossenen Interessenverband, als mächtigen Player auf der Weltbühne der Konkurrenzgesellschaft. Auf ähnlich verschlungenen Umwegen wie bei Smith strebte auch bei ihm das ungebremste Aufeinandertreffen der Interessengegensätze dem Wohlstand aller zu. „Alle“, das waren bei Marx freilich nur die Überlebenden des revolutionären Klassenkampfes.

Gemeinschaft und Gesellschaft

Ferdinand Tönnies, der Urvater der deutschen Soziologie, fürchtete in seinem Hauptwerk von 1887, dass die Gemeinschaft fortlaufend von der Gesellschaft überlagert würde. Er bezeichnete es als „pathologisch“, wenn die Unterordnung des Eigennutzens unter den Kollektivzweck in der Gemeinschaft zugunsten der Brauchbarmachung des Kollektivs für den Eigennutzen in der Gesellschaft verloren ginge. Wer auf dem ökonomischen Feld von „wir“ und „uns“ redet, kann demnach sehr unterschiedliche Konzepte meinen. Das kapitalistische Konzept des Wettbewerbs kennt zwar ein „Wir“, aber es bleibt letztlich ein ausschließendes, kein einschließendes. Es basiert auf Tönnies‘ Gesellschaft, nicht auf seiner Gemeinschaft.

Ob nun eine Konkurrenz der Individuen wie bei Smith oder eine Konkurrenz der Klassen wie bei Marx, die Gesellschaft konnten beide nicht als eigenständige soziale Einheit begreifen. Bedürfnisse gab es für sie nur auf Individual- oder Gemeinschaftsebene, so dass zur Bedürfnisbefriedigung letztlich auch nur diese beiden Ebenen als Ort und die Konkurrenz als „natürliches“ Regelungsprinzip in Frage kamen. Ein Bedürfnis der Gesellschaft als Ganzes, so sie doch erst durch gemeinsames Wirtschaften überhaupt ihre ausdifferenzierte Gestalt gewinnen kann, wird heute in sogenannten makroökonomischen Theorien bestenfalls angedeutet.

Kapitalismus – eine relative Wirtschaftsform

So ist der Kapitalismus eine relative Wirtschaftsform, eine spezifische Wirtschaftsweise, in der wir unsere Existenz noch länger werden bestreiten müssen. Er ist dennoch nicht „die Wirtschaft der Gesellschaft“. Der Grad seines täglich erzwungenen Vollzugs durch uns alle bestimmt die Fiebertemperatur einer Gesellschaft, die ein Wir-Gefühl oberhalb hergebrachter sozialer Gemeinschaften verschwimmen lässt.

„Unwirtschaftlichkeit“ bedeutet im Kapitalismus lediglich, dass kein betriebswirtschaftliches bzw. privates Plus am Ende des Verteilungsprozesses herausspringt. Dabei ist es doch im absoluten Sinne unwirtschaftlich, dass Überfluss und Armut nebeneinander bestehen, obwohl das gesellschaftliche Produktionspotential nie gekannte Höhen erreicht hat.

Die Globalisierung dieser relativen kapitalistischen Form hat zwar eine Weltgemeinschaft hergestellt, diese betrachtet sich aber nicht als solche. Die Arbeitsteilung, in der jedes Glied der Gesellschaft in Produktion und Verteilung mit dem anderen verbunden ist, wurde nicht zur Grundlage einer gemeinsamen Wirtschaftsweise. Das Element der Gemeinschaft wurde nicht – seiner materiellen und ökologischen Faktizität entsprechend – als Ausgangspunkt des weltgesellschaftlichen Wirtschaftens gesetzt, sondern bleibt den konkurrierenden Einzelpersonen und Gruppen überlassen. Arbeit und Verbrauch sind damit weiterhin der Willkür des Besitzindividualismus und von buchstäblich geschlossenen Gesellschaften ausgeliefert.

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Die Volksgemeinschaft im doppelten Wettbewerb nach außen und innen. Werbeanzeige aus der Zeitschrift "Die Wehrmacht" um 1940; Digitalisat: Klaus Klee

Globalisierter Wettbewerb als Weltbürgerkrieg

Die Folgen sind seit dem „Sieg des Kapitalismus“ um 1990 unübersehbar. Nicht nur, dass sich die Einzelteilnehmer der kapitalistisch durchwirkten Weltwirtschaft um die Verteilung streiten. Gemeinschaftsformen der unterschiedlichsten Ebenen – Familien, Betriebe, Nationen, Ethnien, religiöse Gemeinden – treffen im individualistischen Verteilungskampf um Besitz und dessen Früchte aufeinander. Sicherlich bestehen Konfliktpotentiale zwischen diesen Gruppen nicht nur in der ökonomischen Sphäre. Sie ist es aber, etwa indem wirtschaftlicher Druck die (empfundene) Existenzfähigkeit und Entfaltungsmöglichkeit gefährdet, der das bei weitem größte sozial wirksame Gewaltpotential innewohnt.

Der Kapitalismus stellt die Gesellschaft der Weltwirtschaftsbürger her, ohne eine entsprechende politische Beteiligungsmöglichkeit zu schaffen. Alle Versuche, so etwas wie einen freien Weltstaat als Repräsentations- und Organisationseinheit der Weltgesellschaft zu etablieren, sind bisher an Interessenkonflikten von konkurrierenden Gruppen gescheitert. Die Weltbürger entscheiden allenfalls als Konsumenten oder Wettbewerber über ihre Zukunft. Oftmals sehen sie und ihre Gemeinschaftsformen sich aber gezwungen, weiterhin mit der Waffe in der Hand ihre Interessen durchzusetzen. Der vielgerühmte "geregelte Wettbewerb" geht auf diese Weise nahtlos in den weltweiten Bürgerkrieg über, die letzte, vielleicht vernichtende Stufe des Weltkriegs.

Unweigerlicher Wohlstand „auf lange Sicht“

Der allgemeine Wohlstand wird allen Vorhersagen nach bei dieser Verfahrensweise unweigerlich eintreten. Irgendwann. Entweder mit einer endlos betriebenen Maschinerie des produktiv-destruktiven Wettbewerbs, die schließlich doch zur neutralisierenden Waffengleichheit aller Marktteilnehmer führt. Oder mit der gewaltsamen Aneignung dieser Maschinerie durch eine gesellschaftliche Gruppe absoluter Interessenübereinstimmung – sei es eine Klasse, eine Rasse oder etwa die muslimische Weltgemeinschaft der Umma –, in der dann alle anderen Gemeinschaften aufgehen.

Die Frage ist, abseits dieser Sehnsüchte nach der unsichtbaren oder aber harten Hand, ob die Welt solange warten will und kann. Die individuelle und globale Totalität des Kapitalismus „feiert“ zwar immer neue evolutive Höhepunkte. So aber sucht sich auch der „freie“ Wettbewerb verlässlich immer neue Gewinner, Verlierer – und Rächer. Der Weltbürgerkrieg um (soziale) Selbstbestimmung, Einflussgebiete, Marktmacht und Ressourcen ist längst ausgebrochen. Ein Ende dieses andauernden und verlustreichen Weges zum Wohlstand ist nicht abzusehen.

Es ist Zeit, dass sich ein anderer Weg, ein anderes Weltbild durchsetzt. Vorerst wird es ein „rein idealistisches“ gescholten werden. Obwohl doch das Eigentümliche der arbeitsteiligen Gesellschaft materiell bereits die Gemeinschaftsarbeit ist. Das trügerische Wir der Wettbewerbsgesellschaft muss einem Wir mehr Raum lassen, das seine Existenzgrundlage in dieser wirtschaftlichen Gemeinschaft erkennt und ernst nimmt. Am Ende bleiben sonst wieder nur viele „Wir“, die um „unser“ Dasein kämpfen.

<a href="http://www.nachdenkseiten.de/?p=23142#h19">Bildlink Nachdenkseiten: Hinweise des Tages v. 8. September 2014</a><br> <a href="http://www.klee-klaus.de/krieg_und_werbung.htm">Bildlink Klaus Klee: Krieg und Werbung</a>
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Frank Fehlberg

Historiker und Sozialwissenschaftler

Frank Fehlberg

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