Es war nicht an einem der typischen Orte, mit denen man den Blues verbindet, nicht in Detroit, Mississippi oder New Orleans, sondern in San Francisco, als ich einmal in meinem Leben den wahren Blues erleben durfte, der nur dann in Vollendung auftritt, wenn der Teufel dabei ist.
Als guter Deutscher lacht man heute über die Idee, der Blues könnte devil’s music sein. Aber er war an diesem Abend in verschiedener Gestalt anwesend. So deutlich hatte ich ihn noch nie gespürt. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich niemals aus der Kirche ausgetreten, was mich damals auch noch verdammte 30 Mark gekostet hat; zwei Tage später wusste es meine Mutter, dass ich vom Katholizismus abgefallen war, denn damals war Datenschutz in Bayern etwa so verbreitet wie veganes Essen.
Am Rand von China Town gegenüber dem Goethe-Institut in der Bush Street kam es in einer Kneipe zu einer „Night of the Blues“, in die ich eintrat, als die Hitze am größten war. Einige junge Frauen zeigten schon, was sie drunter anhatten. Männer streckten die Arme brüllend nach oben, und ihre Zeigefinger stachen zum Himmel hinauf. König Alkohol hatte das Kommando über die weiße Schar übernommen.
In der Mitte der Bühne ein alter, schwarzer Sänger, der sich – unter einem schwarzen Hut im schwarzen Anzug – an einen Rollator klammerte. Die Band bestand aus vier weißen Typen um die 30, mit langen Haaren und Rock-Café-T-Shirts. Sie nagelten Bretter aus stumpfem Bluesrock um den alten Mann herum. Ein zäher Gitarrenbrei aus nichts als Klischees, den der Sänger nicht wahrzunehmen schien. Er bewegte sich nicht, stand nur da, als würde er auf den Zug ins Jenseits warten und sich fragen, ob er seinen Rollator mitnehmen könne. Er sang mit einer hohen Kinderstimme, ein krankes, unverständliches Geheul. Und die Musiker machten Rocker-Mitmach-Bewegungen zum Publikum oder gingen aufeinander zu und grinsten sich an. Was hatte der Alte getan, um diese Strafe zu bekommen? Er war ausgebrochen, und jetzt hatten sie ihn wieder eingefangen. Fast wie in Trance verfolgte ich diesen Albtraum.
Ich war zum Interview mit Tom Waits rübergeflogen, und dabei hatten wir auch kurz über Blues gesprochen. Sein Album Real Gone war seit Jahren das erste, das ich interessant fand. Er hatte seine Musik wie ein Auto auffrisiert, hatte musikalisch sozusagen aufgetankt, und ich fragte ihn, ob er den Bluesmusiker R. L. Burnside und die Plattenfirma Fat Possum kennen würde. Er regte sich etwas auf: ob ich ihm damit irgendwas unterstellen wolle? Oh, Sir, eigentlich nichts ... Das Dumme war außerdem, also für Waits, dass ihm der englische Journalist Richard Grant, der nach mir zum Interview antanzte, dieselbe Frage stellte. Deshalb hat er so sauer reagiert, sagte Grant grinsend, als wir uns später im Bus nach San Francisco darüber unterhielten.
Die beste Musik, die es gibt
Es stellte sich heraus, dass beim schreibenden Nomaden Richard Grant, dessen Buch Ghost Riders in Deutschland komplett ignoriert wurde, weil alle nur deutschen Mittelschichtscheiß lesen wollten, noch mehr Dampf hinter der Frage nach R. L. Burnside war. Denn Grant hatte sein Lager seit einigen Wochen in einem Trailer, der im Hof des Fat Possum-Labels in Mississippi stand. Sie hatten ihn eingeladen. Um die Ecke wohnte Burnside. Und Paul „Wine“ Jones. Die Kneipe von Junior Kimbrough, den einige große Rocker für den größten Gitarristen aller Zeiten halten, war gerade abgebrannt, aber irgendwo ging es immer weiter.
Mehr Glück als dieser englische Motherfucker konnte doch keiner haben! Mann, sagte ich, ich wünschte, ich könnte auch dort sein. Ja, sagte er, sie machen die beste Musik, die es gibt. Zum Abschied gab er mir die Adresse einer Kampagne, die verzweifelt versuchte, einen schwarzen Typen vom elektrischen Stuhl fernzuhalten – das wäre doch auch eine gute Story.
Dabei hatte ich mich seit Ende der siebziger Jahre nicht mehr besonders für Blues interessiert, als die Partyengtanznummer die beste Nummer war, die ich kriegen konnte. Nur der John Lee Hooker-Fan in mir hat überlebt, und es war mir egal, ob Hooker auch mal mit Santana spielte, denn ich wusste, dass auch ein alter Bluessänger manchmal Geld verdienen musste. Und seine Anzüge gefielen mir sehr gut.
Elektroschrott im Vorgarten
Das hatte mich schon immer nachdenklich gemacht: Die bekannten Bluessänger seiner Generation trugen Anzüge, wenn sie auf die Bühne gingen und machten den Eindruck, als würden sie auch im Anzug unter ihren Cadillac kriechen, wenn der den Blues hatte und nicht mehr wollte. Ein Unterschied zu den weißen Jungs, in dem ich alle Unterschiede zu erkennen glaubte: Deren feeling b oder Albtraum bestand darin, dass sie doch noch als Musiklehrer im Anzug enden konnten, wenn die Plattenverkäufe wie die Sonne untergingen, John Lee Hooker aber wurde in bösen Nächten von den Fließbändern der Autoindustrie in Detroit gejagt, denen er nur mühsam entkommen war, und der Vorarbeiter sagte zu ihm, John, du mieser Motherfucker, zieh deinen Scheißanzug wieder aus, du bist hier nicht im Hobbykeller von Eric Clapton.
Das Label Fat Possum tauchte ein paar Jahre nach seiner Gründung 1996 auf meinem Radar auf, als eine meiner Lieblingsbands, The Jon Spencer Blues Explosion, sich für ein Album hinter diesen R. L. Burnside stellte. Die Explosion-Jungs aus New York hatten mit dem mir bekannten Blues fast nichts zu tun, und der 60-jährige Hinterwäldler Burnside spielte ihn auf eine Art, die mich total überraschte. Eine Art free-style, in dem er über die scheinbar für alle Zeiten betonierten Bluesriffs lärmend wie’n Kampfhubschrauber drüberflog. Soli und Akkordwechsel interessierten ihn weniger.
Es kam dann zu einem kleinen Hype um diese Possum-Posse, und man konnte Burnside und seinen Freund T-Model Ford auch in Europa sehen – und, falls man Lust dazu hatte, erkennen, dass Blues nicht nur mit Gefühlen zu tun hat, die auch deinem Anlageberater nicht fremd sind, sondern mit Lebensbedingungen. Die Männer auf der Bühne hatten Jahrzehnte im tiefsten Schatten der Musikgeschichte gespielt, nichts oder wenig veröffentlicht, keine Konzerte gegeben, sondern den Feierabend in Kneipen in Schwung gebracht, hatten wie Burnside als Traktorist gearbeitet, Farmer, Mechaniker, mit einer Kette aus Flaschen und Knastjahren um den Hals. Und keine passenden Bluesklassiker-Anzüge gefunden.
Inzwischen sind sie alle ins Jenseits gerufen worden, aber in Mandy Steins Dokumentarfilm You see me laughin’ – The last of the Hill Country Bluesmen von 2002 kann es sich jeder ansehen, in zwei Sekunden ist man dabei, wer den Anblick ausnahmslos durchlöcherter Zahnreihen nicht erträgt, sollte es jedoch besser lassen. Dazu Elektroschrott und Autoteile in den Gärten, zerschrammte Holzhäuser, oft auch eine Menge Kinder – und Burnside erzählt lachend, dass er diesen Typen damals beim Würfelspiel gar nicht erschießen wollte, dafür sei Gott verantwortlich! Auch diese Geschichte ist dort nichts Besonderes – in einem Amerika, das auch für die Amerikaner, die nicht mit drinstecken, fremd ist.
Da erübrigte sich die Frage, wie Burnside, Ford, Jones und Kimbrough es geschafft hatten, den alten Blues so komplett zu modernisieren, dass sogar bewährte Musikforscher wie Bono und Iggy Pop auftauchten und die Hipster in den Metropolen ihre Tätowierungen polierten. Sie spielten nur das, was sie immer gespielt hatten, viel mehr haben sie nie dazu gesagt. Männer, die sich für einen Film mit ihren eigenen, nagelneuen Label-T-Shirts herausputzen. Mühsam stapfen sie aus dem Bild, und wenn wir diese Typen bei uns sehen wollen, müssen wir uns mal wieder aufs Sozialamt bemühen. An diesem Punkt erklären die Bluesmusiker jeden Alters, die in einer anderen Welt leben, dass man diesen Scheiß ja wohl nicht selbst erlebt haben muss, um diese Musik und ihre Gefühle ehrlich spielen zu können.
Der Blues in dieser Musikgeschichte ist, wie so oft, bewunderswert deutlich: Musikstars düsen durch die Welt, um dann bei Leuten mal wieder aufzutanken, die ihre Mississppigegend kaum je verlassen haben. Die ohne zwei tapfere, weiße Collegeboys wohl nie ein Label wie Fat Possum bekommen hätten. Was Burnside immerhin ein paar Reisen und einen neuen Van einbrachte. Der Hype hielt nicht länger als die Karriere von Amy Winehouse, aber er trat die Tür ein für neue Bands, zum Beispiel diese weißen Jungs, wie heißen sie denn, ich hab’s, The Black Keys. Sie wussten, wem sie etwas Dank schuldeten, mit „Chulahoma“ ehrten sie Kimbrough, der es leider nicht mehr mitbekam. Die Weisheit eines R. L. Burnside muss sich niemand hart erarbeiten, um sie sofort zu verstehen: Als der Arzt ihm befahl, dem Alkohol zu entsagen, hörte er auch zu spielen auf. So einfach ist das.
Der Augsburger Schriftsteller und Diskjockey Franz Dobler, 54, veröffentlichte gerade The Boy named Sue – Aus den Memoiren eines zerstreuten Musikliebhabers bei Edition Tiamat
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