Philipp Blom will den Sinn für die großen Zusammenhänge schärfen. Der letzte Bestseller der Hamburger Schriftstellers und Historikers, Die zerrissenen Jahre: 1918 – 1938, entwarf ein Panorama der Welt zwischen den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts. Bloms neues Buch verspricht nun eine Geschichte der Kleinen Eiszeit, die aber nicht einfach für sich dasteht, sondern in die Entstehung der modernen Welt verwickelt war. Als wäre das nicht schon ehrgeizig genug, reflektiert Blom am Ende auch noch darüber, was die historische Erfahrung für den heutigen Umgang mit dem Klimawandel bedeuten könnte. Nur ein anderer Autor hat sich in jüngster Zeit an ein ähnliches Programm gewagt: der Historiker Geoffrey Parker der Ohio State University, den Blom zitiert. Parkers Buch zur globalen Krise des 17. Jahrhunderts, das 2013 erschien, räumte der Kleinen Eiszeit eine entscheidende Rolle ein. Häufigere Krisen der landwirtschaftlichen Produktion tauchen darin vor allem als Ursache für gewaltsame, kriegerische Konflikte auf. Blom unterscheidet sich von diesem Vorbild gleich in mehrfacher Hinsicht. Statt eine globale Perspektive zu wählen, beschränkt er sich auf Europa. Statt Krieg und Auseinandersetzung rückt er Landwirtschaft und intellektuelle Konzepte ins Zentrum.
Höhepunkt im 17. Jahrhundert
Ergibt das Sinn? Auch die Rolle anderer Krisen, Epidemien etwa, wird im Staatsbildungs- und Modernisierungsprozess unterschätzt. Nicht alles hängt da mit Klima zusammen, aber das Klima ist tatsächlich in besonderer Weise in diesen Prozess involviert, denn die Landwirtschaft trägt die vormoderne Wirtschaft ganz entscheidend – 90 Prozent der Bevölkerung arbeiten in ihr. Und wer zu Recht konstatiert, dass vormoderne Staatsbildung eng mit Kriegen zusammenhängt, muss präzisieren: Es sind agrarische Flächenstaaten, die Krieg um Boden führen, Krisensituationen verschärfen die Lage.
Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart lautet der ironisch-gelehrte Untertitel des neuen Buchs von Blom. Der Zeitraum 1570 bis 1700 ist ausgezeichnet gewählt. Erst seit einigen Jahren verfügen wir über hochauflösende Klimarekonstruktionen für die südliche Hemisphäre. Der Vergleich mit den schon länger verfügbaren Temperaturdaten der Nordhemisphäre zeigte, dass es nur eine wirklich signifikante Phase der Abkühlung in beiden Hemisphären gab. Nur in dieser Phase erreichte die Kleine Eiszeit wirklich globale Ausmaße. Letztlich hat sich damit auch die alte These bestätigt, dass der Höhepunkt der Kleinen Eiszeit im 17. Jahrhundert lag. Dabei spielten im Wesentlichen drei Faktoren zusammen: erstens der sehr langfristige und langwierige Abkühlungstrend, der sich durch die zunehmende Entfernung der Erde von der Sonne auf ihrer orbitalen Umlaufbahn ergibt; zweitens eine zwischen 1645 und 1715 leicht reduzierte Solarstrahlung („Maunderminimum“); und drittens eine größere Zahl von Vulkanausbrüchen mit globalen Abkühlungseffekten. Im Vergleich zum Mittelalter lag die durchschnittliche Abkühlung dennoch unter einem Grad Celsius. Blom spricht von zwei Grad für Europa.
Das ist sicher zu hoch angesetzt. Aber völlig rätselhaft ist die Behauptung, im späten Mittelalter, bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, habe Europa eine Wärmeperiode erlebt, „während der die Temperaturen um durchschnittlich zwei bis drei Grad höher waren als heute“. Das hätten selbst ernannte Klimaskeptiker gern so, also Leute, die sich die Tatsachen der globalen Erwärmung unserer Gegenwart schönreden wollen. Aber Blom ist ganz und gar kein Klimaskeptiker. Umso rätselhafter bleiben diese merkwürdigen Zahlen.
Die Geburt der Kartoffel
Das schadet allerdings am Ende wenig, weil die Argumentation Bloms letztlich nicht darauf angewiesen ist, wie zutreffend diese Angaben sind. Dreh- und Angelpunkt für den Zusammenhang zwischen Kleiner Eiszeit und Moderne ist die Transformation der Landwirtschaft. Ende des 16. Jahrhunderts herrschte in Europa noch das alte, feudale System, das auf Selbstversorgung aufbaute. Ihr Hauptprodukt war der Weizen, das wichtigste Grundnahrungsmittel. Die Kleine Eiszeit setzte diese Landwirtschaft unter einen massiven Anpassungsdruck, der sie zu Veränderungen drängte. Neue Chancen erwuchsen dabei unter anderem aus kolonialen Erfahrungen. Natürlich war Kolumbus bereits Ende des 15. Jahrhunderts in der Karibik gelandet. Aber erst im 17. Jahrhundert entstand in den Kolonien die kommerzielle Landwirtschaft, die auf Sklavenarbeit beruhte und landwirtschaftliche Produkte für den Handel erzeugte.
Für die Landwirtschaft in Europa wurden die botanischen Gärten zu Experimentierfeldern, aus denen neue Nutzpflanzen wie die Kartoffel hervorgingen. Kommerzieller Landbau setzte sich zuerst in den Niederlanden und in England durch, deren Handelskompanien den Pflanzen- und den Wissensaustausch zwischen Neuer und Alter Welt antrieben. Die agrarische Transformation, die sich bis weit ins 18. Jahrhundert erstreckte, ließ die Märkte expandieren. Und sie hatte massive soziale Auswirkungen. Landgüter wie die englischen Allmenden wurden privatisiert und kommerziell genutzt. Viele ehemalige Bauern, die zuvor Selbstversorger gewesen waren, waren zur Lohnarbeit gezwungen oder wanderten in die Städte. So entstand eine neue Schicht von Armen.
Der neue agrarische Kapitalismus war zweifellos in vielerlei Hinsicht ausbeuterisch. Blom betont das. Vor allem in den transatlantischen Kolonien beruhte dieser Kapitalismus auf Sklaverei. Die Zwangsarbeit stand im Widerspruch zu den freiheitlichen Idealen des philosophischen Liberalismus, wie ihn John Locke erfand. Auch da hat Blom recht. Aber wie ausbeuterisch waren die strukturellen Veränderungen in Europa selbst? Die Lohnarbeit nahm zu, und die Kommerzialisierung auf dem Land beflügelte die Suche nach neuen Chancen im bürgerlichen Umfeld der Stadt. Der Vergleich solcher Aspekte des Wandels mit dem Ausbeutungssystem des alten Feudalismus rückt den agrarischen Kapitalismus des 17. Jahrhunderts in ein anderes Licht. Blom erkennt selbst an, dass die Transformation im 17. Jahrhundert eine neue gesellschaftliche Dynamik erzeugte, neue Aufstiegschancen schuf, die Wissenschaft beflügelte, die Aufklärung hervorbrachte.
Auch in der Abkehr von alten theologischen Naturdeutungen erkennt Blom einen Anpassungsprozess an die Kleine Eiszeit. Diese setzte die überwiegend ländliche Bevölkerung Europas im 17. Jahrhundert derart häufig immer neuen Krisen aus, dass Zweifel an den moralischen Botschaften von Apokalyptik und Gottesstrafe lauter wurden. Das System gottgefälligen Handelns und frommer Prozessionen im Tausch für die Gnade einer guten Ernte funktionierte irgendwann nicht mehr. Besser gesagt, einige Intellektuelle wie Pierre Bayle erklärten es gegen Ende des 17. Jahrhunderts immer deutlicher und unverhohlener für überholt. Blom macht hier etwas, das man gern häufiger sähe. Er blickt aus den Erfahrungen des 17. Jahrhunderts auf die Frühaufklärung, die zu oft vom 18. Jahrhundert her betrachtet wird.
Man wird Philipp Blom nicht vorwerfen können, bei den modernisierenden Folgen der Kleinen Eiszeit auf simple, gar deterministische Ideen von Ursache und Wirkung zu setzen. Wenn er von Anpassung an den Klimawandel spricht, dann ist ein komplexer, von Zufälligkeiten mitbestimmter Prozess gemeint. Damit ist auch ein Bogen in die Gegenwart geschaffen, die Blom eher pessimistisch sieht. Beim gefeierten Pariser Klimaabkommen von 2016 befürchtet er eine Verwässerung bis zur Unkenntlichkeit. Vor allem die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftswachstums erscheint ihm fraglich. Neue Konzepte seien gefragt, wie sie im 17. Jahrhundert entstanden. Hier bietet dieses lesenswerte Buch wertvolle Denkanstöße. Und es betont den Wert historischen Wissens für Gegenwart und Zukunft.
Info
Die Welt aus den Angeln: Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart Philipp Blom Carl Hanser 2017, 304 S., 24 €
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