Nur noch Zahlen, Daten, Fakten? Corona und die Gefahren des Glaubens an die Wissenschaft
Gesellschaft Was sagen Zahlen? Was sagen Daten? Leider sind diese nicht immer so eindeutig, wie manche sich das wünschen. Denn Wahrheit ist immer umkämpft
Kein Satz wurde in Zeiten der Pandemie häufiger strapaziert als dieser: „Die Wissenschaft sagt.“ Die Wissenschaft, ja die. Die Tücke liegt bereits im Singular. Er stellt einen Anspruch, der keinen Widerspruch duldet. Nur Ignorantinnen und Obskuranten stellen sich dem entgegen, versündigen sich wider die Wissenschaft.
Dieser Singular gibt vor, er hat eine totalitäre Note, weil er a priori andere Kenntnisse und Vorbringungen diskreditiert, diese seien nicht nur unrichtig (worüber sich streiten ließe), sie seien im wahrsten Wortsinn unmöglich. Und sie sind daher auch unmöglich zu machen. Das Verdikt schreit nach Exkommunikation. Schnell wird man zum Scharlatan, genauer gesagt zum Covidioten, zum Corona-Leugner. Und weil es solche schon geben
hon geben mag, ist es ganz leicht und schlüssig, alle Abweichungen vom herrschenden Kanon dieser Rubrik zuzuordnen, da mag selbst der Dissident gestern noch als renommierter Forscher gegolten haben. Wenn einzelne Wissenschaftlerinnen nicht sagen, was die Wissenschaft sagt, sind sie fällig. Das mit der Wissenschaft im Singular funktioniert nur, wenn man vielen Wissenschaftlern die Reputation entzieht oder gar nicht erst zugesteht. Das geschieht. Wer sich nicht einreiht, wird diffamiert. Alle haben zu sagen, was angesagt ist. Seit Corona starren wir wie gebannt auf die Zahlen, ob wir das nun wollen oder nicht, wir fixieren, weil wir mittlerweile an das Dashboard fixiert worden sind. Unter den Bedingungen eines fanatischen Singularismus lässt sich kaum diskutieren.„Die Fakten liegen auf der Hand“? Alle Fakten, die auf der Hand liegen, werden zuerst auf diese Hand gelegt. Sie sind nicht mehr als ein begründeter Vorschlag. Was vorliegt, ist nicht einfach aufgelegt, sondern wird ausgelegt. Wir können auf Fakten nicht verzichten, aber sie sind keine Fixsterne, sondern Trabanten der Erkenntnis. Was Zahlen und Daten können und was sie nicht können, das wäre wirklich eine spannende Diskussion. Zahlen haben zweifellos unterschiedliche Haltbarkeiten, insbesondere perspektivisch. Heute jedoch erscheint es so, dass alles, was eine Zahl vorweisen kann, schon etwas bewiesen zu haben meint.„Die Zahlen sprechen für sich“? Zahlen sprechen nicht. Daten sprechen nicht. Und auch die Fakten sprechen nicht. Wir sind es, die sprechen. Zahlen, Daten, Fakten, die werden erschaffen, bevor sie uns vorgesetzt werden. Was die Zahlen hergeben, ist identisch mit dem, was in sie hineingegeben wurde. Zahlen sind stets präpariert, Zahlen werden gezüchtet. Es ist also die Frage zu stellen, woher sie denn kommen, an wen sie denn wollen – und vor allem, wozu sie denn dienen. Keine Zahl ist unbelastet. Was wir erfahren, sind stets Resultate. Uns aber sollten die Abläufe mindestens so interessieren wie die Ergebnisse selbst. Kurzum: Wenn wir nicht wissen, wie Zahlen entstanden sind (und das wissen wir selten), können wir nur den Herausgeberinnen vertrauen, um jene als seriös und relevant einzuschätzen. Es ist leichter, an Zahlen zu glauben, als sich ein differenziertes Urteil zu bilden. Formulierungen wie „Das geben die Zahlen nicht her“, „Die Fakten sprechen eine andere Sprache“, „Studien zeigen“, sollten mit Vorsicht genossen werden. Sie sind Phrasen des Framings.Zählen als ErzählenWird eine Aussage der Wissenschaft (wie auch jede andere) zum Faktum erhoben, dann wird sie immunisiert. Fakten stehen außerhalb der Kritik. Kritik an Fakten wird als Leugnung dechiffriert und führt unweigerlich zur Delegitimation der Kritikerinnen. Vom dekorierten Wissenschaftler zum Schwurbler ist der Weg oft ein kurzer. Einwände werden also nicht argumentativ zurückgewiesen, sondern gelten a priori als desavouiert. Nicht nur falsch sind sie, unzulässig sind sie. Zweifel dürfen gar nicht erst aufkommen. Wird eine Nähe zu Verschwörungstheorien attestiert, gilt man in einschlägigen Kreisen schon als erledigt. Die Singularität feiert einen Triumph, sie behauptet sich, indem sie behauptet, dass es nur sie gibt.Zahlen liefern aber bloß bestimmte Resultate, sie sind nicht einfach da, sie sind kein unveränderlicher Rohstoff, der nur aufgedeckt werden muss. Sie werden vielmehr durch unterschiedlichste Methoden entwickelt und gebildet. Keine Zahl, an der nicht die Messlatte klebt. Messverfahren sind unabdingbar. Diese sind nicht simple Werkzeuge, sondern abstraktifizierte Komplexe, mit denen wir uns an den Gegenständen vergreifen. Wie wir zählen, folgt spezifischen Vorgaben, die das Publikum nicht kennt. Zahlen, Daten, Fakten sind nicht gesetzt, sondern werden kreiert, sie sind keine objektiven Tatbestände. Jedes Zählen ist auch ein Erzählen.Was zählt, ist die Zahl. Alles soll messbar werden. Vermessung und mit ihr die Bewertung werden zum Diktat der Dinge, Verhältnisse und Personen. Sie kleben fest an ihnen. Zahlen werden als korrekt anerkannt, sie besitzen über diesen Vertrauensvorschuss ein „kaltes Charisma“. Zahlen kodifizieren eine Weltsicht. Wir werden „zu Gläubigen in der Kirche der Zahlen“ (Steffen Mau). Wir befinden uns auf verzaubertem Gelände, voll von religiösen Formeln und mythischen Geheimnissen. „Die Zahl“, schrieb Hegel, „ist die toteste, begrifflose, gleichgültige, unentgegengesetzte Kontinuität.“ Dass Daten provisorische Ergebnisse mathematischer Verfahren sind und nicht einfach gültige Urteile, diese Erkenntnis ist in unserem Hausverstand alles andere als präsent. Ganz frei von jeder Dialektik wollen sie sich behaupten und hinterlassen. Zahlen entdialektisieren. Daten erscheinen als präzis, nicht als variabel. Zahlen sind fetischistische Maklerinnen. Erst unsere Projektion setzt die Sicherheit, die sie uns geben.Skalen und Tabellen vermögen nicht mehr wiederzugeben als numerische Relative. Zahlen sind immer zu relativieren, weil sie Relative sind. Eine Zahl ist also keine objektive Beschreibung (was immer das sein soll), sondern ein Marker in der Debatte, der stets um Plausibilität ringt. Zahlen, Daten, Fakten sind keineswegs vorgegeben, neutral oder gar unangreifbar. Wollen sie begriffen werden, müssen sie in doppeltem Sinn angreifbar sein. In Wirklichkeit treten Tabellen, Diagramme und Statistiken aber nicht als Illustrationen sondern als Vorschriften, als Verordnungen auf.Reality- oder Faktenchecks gehen stets davon aus, dass Wahrheit kein umkämpftes Feld sei, sondern eine fixierte Stelle: So ist das, nicht anders! In seiner Rigorosität jedoch ist das Unsinn. Die Konsequenz ist stets eine zwischenläufige Sequenz, vor der eins nicht verstummen soll. Reality ist nicht einfach vorhanden, Reality wird gemacht. Wer Reality mit Wirklichkeit und Checken mit Denken verwechselt, dem und der ist unmittelbar wenig zu helfen. Kritik besteht darin, den Fakten zu misstrauen, sie eben nicht als gegeben hinzunehmen, sondern stets zu hinterfragen, sie vor allem auch flüssig zu halten. Das gilt auch und insbesondere für die eigene Forschung und Erkenntnis. Kritische Theorie ist eine Theorie, die stets wissen will, wie und warum es denn gerade zu diesen Ergebnissen gekommen ist. Sie ist das Gegenteil von Wissenschaftsgläubigkeit und Positivismus. Wahrheit ist immer fragil, eine zarte, keine harte Größe.Fact-Checking als KontrolleFact-Checking gilt heute als journalistische Königsdisziplin. Ein hochdekoriertes und hochfinanziertes International Fact-Checking Network will hier das Ruder der liberalen Meinungssteuerung übernehmen. Da wird nicht kommuniziert, da wird korrigiert. Botschaften haben unter Kontrolle zu stehen. Es geht um Überwachung. Die Pandemie bringt das viel deutlicher zum Vorschein, als dies früher der Fall gewesen ist. Message Control ist angesagt, nicht nur in der Politik, sondern vor allem in der Wissenschaft. Kontrolle gilt insbesondere auch dem Publikum. Es hat zu spuren.In Zeiten pandemischer Verunsicherung übernehmen kleine outgesourcte Einheiten die Funktionen eines Wahrheitsministeriums. Dieses vielköpfige Ungeheuer fordert Gebote ein und spricht Verbote aus. Zunehmend schreit es nach staatlichen Sanktionen. Es geht davon aus, dass jene sich selbst ermächtigenden Instanzen Wahrheit feststellen können. Ideell ernennen sich diese Organe zu Vorgesetzten der Debatte. Gleich Zensurbehörden sagen sie, was zulässig ist und was nicht. Ein Teil nimmt für sich in Anspruch, Richter, ja Scharfrichter zu sein.Der Corona-Modus will nicht nur herrschen, er will absolut herrschen. Das kulturindustrielle, also seriell hergestellte Corona-Narrativ hängt wie eine Glocke über der Gesellschaft, die alles übertönt. Maßnahmen standardisieren, Stimmungen kontrollieren, Abweichungen desavouieren, so lautet das Motto des pandemischen Mainstreams. Man diskutiert nicht, man dekretiert und das journalistische Personal reproduziert dies noch entschiedener als das politische. Unabhängig meint willfährig. Das Realszenario folgt weniger einem Plan als einem Impuls, der inzwischen zum Selbstläufer geworden ist. Es ist ausgeschlossen, nicht recht zu haben. Bestimmte Ansichten werden nicht nur abgelehnt, sie werden gar nicht erst erlaubt. Reelle Politik agiert wie eine ideelle Polizei.Infizierte sind eine beschränkt brauchbare Kategorie. Da stecken asymptomatische Personen (also Gesunde!) und Intensivpatienten in einer Klasse. Nicht, was die Person ist, ist relevant, sondern was in ihr ist, nämlich das Virus. Bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der Virusträger, den Asymptomatischen, wäre in testfreien Zeiten gar nicht aufgefallen, dass sie krank sein könnten oder es auch nur gewesen sind. Gar nichts wäre ihnen und an ihnen aufgefallen. Doch jetzt wird jeder erwischte Träger (und somit Überträger!) des Virus zum Patienten erklärt, der in Quarantäne muss. Daher gibt es auch Genesene, die nie krank gewesen sind. Was interessiert, ist ein von wesentlichen Inhalten befreites Quantum, mit dem man medizinisch argumentieren und politisch agieren kann. Das Virus folgt in seiner Zählung der Quantenbestimmung seiner Kontrollinstanzen. Zahlen sind da unerlässlich. Sie sollen leiten, vor allem alarmieren, schrecken, ängstigen.Seit Corona starren wir wie gebannt auf die Zahlen, ob wir wollen oder nicht, wir fixieren, weil wir mittlerweile an das Dashboard fixiert worden sind. Die Gefährlichkeit des Virus wird durch das dominante Narrativ bestimmt. Dieses setzt eine Realität, die nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln ist. Je mehr jenes nacherzählen und je mehr jenem glauben, desto größer ist die Relevanz in der Ökonomie der Aufmerksamkeiten. Statistiken und Tabellen weisen uns den Weg, sie sollen selbstständiges Denken ersetzen. Konstruktion und Komplexität, Montur und Montage sollen und können so gar nicht mehr gesehen werden.Spezifische Kampf-Ausdrücke wie „Verharmloser“ und „Leugner“ sind dabei direkt dem antinazistischen Vokabular entnommen. Im Corona-Diskurs jedoch verkommen sie zu einem üblen wie debilen Jargon, dessen Absicht darin besteht, die herrschenden Maßnahmen und Vorschriften gleich einem antifaschistischen Abwehrkampf zu inszenieren. Ein Teil der Antifas spielt sogar mit, indem er lautstark skandiert: „Euch werden wir auch noch impfen.“Eine gespenstische Debatte gerät völlig ahistorisch zu einer Abart eines antifaschistischen Tribunals. Es herrscht Krieg und Belagerung. Belagerungsmentalität, Lagerdisziplin und Lagerkoller sind die unausweichlichen Folgen. Sondergerichte tagen. Eine Farce beginnt zu galoppieren. Nur fragt sich: wohin?Placeholder infobox-1
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