Das Ende der Angst

Österreich Ein Experiment im Oberen Waldviertel befreit Arbeitslose von ständiger Drangsalierung und Depression
Ausgabe 05/2018

Heidenreichstein mit etwa 4.100 Einwohnern ist eine verletzte Kleinstadt. Vor allem nach dem Kollaps der Industrie Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre hat sich der Ort im Oberen Waldviertel in Niederösterreich nie mehr richtig erholt. Die Arbeitslosenrate ist entsprechend hoch. Seit einigen Monaten läuft hier nun das Projekt „Sinnvoll tätig sein“ (STS), das jenseits gängiger Disziplinierungsmuster versucht, über 40 Langzeitarbeitslosen (in etwa ein Prozent der Bevölkerung) Perspektiven zu eröffnen, die sich doch von obligaten Erwartungshaltungen unterscheiden. Geleitet wird dieses Projekt, das offiziell als Kurs des AMS (Arbeitsmarktservice, das österreichische Pendant zur Bundesagentur für Arbeit) firmiert, von Karl Immervoll und der „Betriebsseelsorge Oberes Waldviertel“, die mit ähnlichen Initiativen schon einschlägige Erfahrungen sammeln konnten. Arbeitslose sollen nicht als Fälle oder gar Problemfälle wahrgenommenen werden, sondern als Menschen. Natürlich geht es auch um Arbeit und Arbeitsplatz – vorrangig jedoch um die Personen selbst. Nicht Was sollen wir? ist die entscheidende Frage, sondern Was wollen wir? Was will ich?

Es ist in Ordnung, wie du bist

In einem ersten Bericht darüber schreibt Immervoll: „Die Befreiung von Ängsten und Druck ist ein Prozess. Trotzdem: 18 Monate von den Vorgängen rund um die Arbeitssuche befreit zu sein, Zeit zu haben, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Für manche bedeutet das, sich zum ersten Mal in ihrem Leben die Frage zu stellen: Was ist mein Weg? Generell ist das für alle eine neue Lebenssituation. Die Frage, was denn jetzt wirklich zu tun ist, verunsichert. Denn es stellt den Arbeitsbegriff auf den Kopf: Arbeit war bisher etwas, was jemand aus einem ökonomischen Interesse heraus von mir verlangt, und ich, indem ich es tue, dafür entlohnt werde. Nun heißt es: Entwickle deine Fähigkeiten und teile sie mit anderen, indem du sie in die Gesellschaft einbringst!“ Und Immervoll weiter: „Hier brauchst du dich nicht zu rechtfertigen. Es ist in Ordnung, so wie du bist. Dein Bemühen, dein Tun wird von uns keiner Wertung unterzogen. Hier bist du als Mensch geschätzt, und wir haben die Zeit, zu schauen, was du brauchst, und machen uns gemeinsam auf den Weg. Wir nehmen uns Zeit und hören zu. Unser Gegenüber spürt und schätzt, dass sie/er für uns keine Nummer ist.“

So fungiert der Bezug von Arbeitslosengeld für anderthalb Jahre ähnlich einem garantierten Grundeinkommen. An den finanziellen Begrenzungen für die Betroffenen ändert sich zwar nichts, was sich aber fundamental ändert, ist das restriktive Rundherum. Der Charme besteht darin, nicht ständig Angst haben zu müssen, dass die soziale Absicherung auszufallen droht – der Punkt, der von den Teilnehmern am meisten geschätzt wird. Verbindlich erwartet werden lediglich Tagebücher über den Umgang mit vorhandener Zeit.

Ziemlich unterschiedliche Typen frequentieren diesen Kurs, da tummeln sich Frauen und Männer im Alter von 20 bis 60, Personen, die einen akademischen Abschluss haben, bis hin zu solchen, die kaum lesen können. Manche haben 40 Jahre Lohnarbeit hinter sich, andere sind aus diversen Gründen zwischenzeitlich ausgestiegen. Da finden sich Jugendliche, die noch nie so richtig in einem Arbeitsverhältnis angekommen sind, oder Menschen, die wegen schwerer körperlicher Beeinträchtigungen (durch Unfälle oder chronische Erkrankungen) keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Physisch und psychisch geschwächt sind freilich die meisten.

Im Zwischenbericht des Projekts heißt es: „Arbeitslosigkeit erzeugt Druck, am größten seitens der Gesellschaft. Die obligate Frage bei Begegnungen, was man denn jetzt beruflich mache, drängt in die Isolation. Niemand will als Versager dastehen, vor allem wenn der Zustand der Arbeitslosigkeit schon länger andauert. Dazu kommen die Termine beim Arbeitsmarktservice (AMS). Allzu oft erleben wir, dass Menschen schon Tage zuvor in ‚alle Umstände‘ verfallen, wenn sie die Notstandshilfe verlängern müssen, aber auch jeder Kontrolltermin verunsichert: Werde ich wo angewiesen, muss ich in eine Schulung …?“ Vorstellungsgespräche seien in der Regel mühsam, weil die meisten Betriebe niemand brauchen. Man gehe halt hin, weil man muss, weil man Bewerbungen vorweisen soll. „Gleichzeitig“ – so der Bericht – „sind die Verweigerung von Erwerbsarbeit und lang anhaltende Arbeitslosigkeit ein Ausschluss aus der Gesellschaft und damit Verweigerung von Anerkennung.“

Ein Widerspruch ist offensichtlich. Arbeit wird eingefordert, kann aber nicht ausreichend angeboten werden. Ist man erwerbslos und auf sozialen Beistand angewiesen, wird man unter Kuratel gestellt und verwaltet. Die Vormundschaft durch das AMS ist anstrengend und demütigend, man darf dies und jenes nicht, vor allem hat man Arbeitsbereitschaft zu demonstrieren und zu vorgegebenen Zeitpunkten (Vorstellungsgespräche, AMS-Kontrolltermine) zur Verfügung zu stehen. Widrigenfalls drohen Sanktionen. Das heißt, man disponiert nicht mehr, sondern wird disponiert. Man hat sich nicht mehr selbst, ist angewiesen und aufgrund der Abhängigkeit von Zahlungen (Arbeitslosengeld, Mindestsicherung) auch entsprechend erbötig. Das prägt.

Diese Zumutungen nerven nicht bloß, sie beschädigen und verletzen merklich. Nicht nur mental. Nicht einmal die Freizeit bleibt „frei“, da die Gedanken anderswo kreisen, in der Drangsalierung hängen, sich nicht von ihr lösen können. Man ist unter Druck, selbst wenn da niemand direkten Druck ausübt. Die Lage ist hochgradig amorph: gestaltlos, unbegreifbar, weil ungreifbar, unfassbar und daher irgendwie bedrohlich. Drangsalierung ist etwas, das man nicht einfach abschütteln kann, da sie sich in einem festgesetzt hat. Sie produziert Stress und Ohnmacht. Leute, die in einer Notlage sind, werden zusätzlich belastet. Vor allem das Training von Bewerbungen gleicht zumeist einem Leerlauf mit frustrierendem Ausgang.

In drangsalierten Zeiten ist Selbstbestimmung aufgrund der psychischen Konstellation aufgehoben. Man fühlt sich geknechtet, geplagt, gepeinigt, da muss unmittelbar gar nichts geschehen. Oft reicht ein Blick, eine Geste, eine Handbewegung, ein Wort, eine Ladung, ein Bescheid, ein Gerücht. Drangsalierung erscheint nicht als Konfrontation oder Kampf, sondern als ein Verhältnis, bei dem man apathisch wird, aber nicht aussteigen kann. Drangsalierung ist eine chronische Belastung, nicht bloß eine akute Herausforderung. Stets wird am Selbstbewusstsein gekratzt.

Wer isoliert wird, isoliert sich

Für Arbeitslose ist dieser Zustand – selbst wenn er sich nicht unmittelbar manifestiert – latent vorhanden. Das heißt, er ist immer da, manchmal aber gut verborgen, weil verdrängt. In solchen Lagen hat man den Kopf nicht frei. Drangsalierte Zeit ist also schwer zu ermitteln, und es ist auch schwierig, derlei anderen zu vermitteln. Sie ist keine abgrenzbare Erscheinung, sondern eine übergreifende. Man kann nie genau sagen, wann und wie lange man unter welchem Druck steht. Aber es lässt sich darüber reden. Das Wechselspiel des Ausschlusses besagt: Wer isoliert wird, isoliert sich. So gesehen leistet das Heidenreichsteiner Experiment auch Dienste an alternativer Vergemeinschaftung. Bekanntschaften werden geschlossen, Freundschaften entstehen. Es gibt sogar gemeinsame Ausflüge. Menschen lernen sich kennen, die sich sonst nie kennengelernt hätten. Da geht es auch um eine Rückholung in die Kommune, ohne Muster aufzuerlegen.

Eine Menge von zusätzlichen Kursangeboten steht den Arbeitslosen parallel zur Verfügung: gesundes Essen, Erste Hilfe, Männerseminar, Schönheitsseminar, Rückenfit, Suchtprävention, Tanzen, Move your Ass etc. – Die Leute sollen fitter werden. Geistig und körperlich. In erster Linie handelt es sich dabei nicht um die Erfüllung eines äußeren Anspruchs. Aktiviert werden ist zweifellos wichtig, aber es ist wichtig als Selbstzweck, nicht als Zweck.

Die befreiende Potenz des Projektes „Sinnvoll tätig sein“ (STS) ist auf jeden Fall größer, als das bei Erfahrungen der Fall ist, mit der Arbeitslose in der Regel zu tun haben: Schalterkonfrontationen, Vorstellungen, Zuweisungen und Abweisungen. Wer je in einer solchen Situation gewesen ist, kann das nachvollziehen. Umso mehr werden die STS-Kursteilnehmer psychisch entlastet. Fast alle geben an, dass ihr Wohlbefinden in den zurückliegenden Monaten gestiegen sei.

Die Arbeitslosen sind natürlich nicht von Kritik ausgenommen. Feststellbar ist einerseits der Hang zu Distanz und zum Abtauchen, zum Noch-kleiner-Machen, zum Fatalismus. Auffällig sind andererseits aber auch notorisch positives Denken und explizit esoterische Muster, allesamt dazu da, persönliche Krisen umzudeuten, ihnen Sinn zu verordnen, anstatt Kritik angedeihen zu lassen. Gelegentlich hindern einige Vielredner die Schweigsamen an der Artikulation. Nicht vorsätzlich, aber doch effektiv. Unterschiedliche intellektuelle Standards sind hingegen kaum ein Problem. Persönliche Konflikte in der zusammengewürfelten Gruppe sind bisher selten aufgetreten, im Gegenteil, man lernt sich kennen und schätzen, von neuen sozialen Kontakten ganz abgesehen.

Das gemeine Volksvorurteil, wonach Arbeitslose Schmarotzer sind und es sich auf Kosten der Allgemeinheit gut gehen lassen, heißt im Prinzip nichts weiter, als dass es allen Arbeitslosen gefälligst schlecht zu gehen habe. Die Abgehängten hängen freilich weniger in den Hängematten als in den Seilen. Nicht nur vor diesem Hintergrund stellt sich heute tatsächlich die Frage, ob es nicht gesamtgesellschaftlich sinnvoller wäre, statt des illusorischen „Arbeit für alle!“ das machbare „Hängematten für alle!“ zu fordern. Etwas mehr Abhängen würde den Leuten sowieso nicht schaden, kämen sie doch dann auf Gedanken, die ihnen in ihrem Alltagstrott nie einfielen. Mehr Muße würde allen guttun.

Arbeitslosigkeit ist als gesellschaftliches Phänomen zu denken, nicht als individuelles Manko. Sorge und Hilfe und Verständnis prägen jedenfalls das Heidenreichsteiner Experiment, es ist somit keine Variante eines alternativen Zucht- und Ordnungsprogramms. Druck soll genommen, nicht entfacht werden. Ob derartige Versuche unter der ÖVP-FPÖ-Regierung und Kanzler Sebastian Kurz weiter möglich sind, darf bezweifelt werden.

Franz Schandl arbeitet für das wissenschaftliche Begleitprogramm von STS. Von 1985 – 1995 war er zudem Gemeinderat der Alternativen Liste in Heidenreichstein. Mehr Informationen dazu hier

Das STS-Projekt hat, da die Förderung einer Studie, worin das Experiment
dokumentiert und analysiert werden sollte, von offizieller Seite (Land
Niederösterreich) abgelehnt wurde, ein Crowdfunding gestartet, siehe:

https://www.startnext.com/sts-grundeinkommensprojekt

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