"Wir haben offenbar die letzten anderthalb, zwei Jahre durchgelogen. Es ist ganz klar, dass nicht wahr ist, was wir sagen", erklärt der Regierungschef. Ist solch eine Aussage ein Skandal? Dezidiert nein, so ist die politische Normalität, und das sollte endlich auch zur Kenntnis genommen werden. Sie ist somit alles andere als ein Skandal, aber vielleicht gerade deswegen doch einer, aber ein anderer.
Auf der Website des ORF heißt es ganz kryptisch: "Ihm wird vorgeworfen, zugegeben zu haben, dass seine Regierung in den vergangenen Jahren gelogen habe." Genau darum geht es. Gyurcsány wird gar nicht angekreidet, gelogen zu haben, sondern es zugegeben zu haben. Das macht doch einen Unterschied. Nicht die Lüge ist das Problem der Politik, auch nicht die gegenseitige Bezichtigung, sehr wohl aber ihre Offenlegung als Einbekenntnis.
Indes, nur jene, die sich selbst belügen oder gar an die Kindermärchen der Staatsbürgerkunde glauben, verbieten sich, das zu wissen. Freilich ist es ein Schlag ins Gesicht, es in dieser Schroffheit präsentiert zu bekommen. Aber jeder, der sich in der Politik umhört oder gar jemals an ihr beteiligt gewesen ist, weiß es oder weiß es zu verdrängen. Genau diese Wand hat Ferenc Gyurcsány durchlöchert. Der Premier mag sich demaskiert haben, aber noch mehr hat er dem Wahlvolk die selbstgenügsame Larve herunter gerissen. Die Ungarn können sich in diesem Moment nicht mehr dem Schein hingeben. Das tut weh. Auch wenn die Demonstranten in Budapest es nicht verstehen, sie demonstrieren nicht gegen die Lüge, sondern gegen die Wahrheit. Besser wäre es, sie demonstrierten gegen die Wirklichkeit, die solche Wahrheiten und Lügen erzwingt.
Politik ist kein Ort der Selbstbestimmung, sondern ein Zauberkabinett der Reklame. Was drücken wir ihnen rein? - ist die obligate wie zynische Frage jeder, also auch politischer Werbung. Sie fällt damit ein vernichtendes Urteil über das Publikum, das sie behandelt. Nicht die Lage der Menschen ist Richtschnur, wohl aber deren Stimmung. Wer Politiker ist, kann die Leute - vor allem die eigenen Anhänger - nur verachten für das, was sie sich bieten lassen. Die meisten tun das auch, aber sie sagen es nicht. Dafür erzählen sie dem so genannten Souverän die selige Geschichte vom Mündigen, denn die wird von allen Hörigen sehr gern gehört.
Ferenc Gyurcsány hat hier die Regeln gebrochen. Da ist einer, der sich seiner hellen Augenblicke nicht erwehren kann. Das ist untypisch für einen Politiker, soviel Offenheit ist selten. Die Rede Gyurcsánys ist die mit Abstand interessanteste, die ich seit Jahren von einem etablierten Politiker gelesen habe. Schwach wird sie bloß dort, wo er meint, er spreche von einem "ungarischen Phänomen". Das ist weder ein ungarisches, noch ein europäisches oder gar ein importiertes amerikanisches, sondern eines, das die moderne Politik insgesamt auszeichnet.
Nicht politische Krisen erleben wir, sondern Krisen der Politik. Und diese schiere Verzweiflung des Politikers an der Politik angesichts ihrer Mittel, wird dezidiert angesprochen: "Wir treiben uns gegenseitig in den Wahnsinn in manchen Punkten, dass wir die notwendige Menge Geld zusammenkratzen können", heißt es in der etwas holprigen Übersetzung der Gyurcsány-Rede. Damit wird ausgesprochen, was man im Getriebe der Politik spüren kann, sofern man sich überhaupt noch spürt und die Betriebsamkeit des Sachzwangs nicht als Pflicht einfach hinnimmt. Gyurcsány im Original: "Ihr irrt euch, wenn ihr denkt, dass ihr die Wahl habt. Ihr habt sie nicht. Ich habe sie nicht. Heute besteht höchstens die Wahl, ob wir versuchen zu beeinflussen, was passiert, oder ob uns das ganze Zeug auf den Kopf fällt."
Auch dem wenig korrekten Urteil, dass "wir Arschlöcher zueinander sind", kann kaum widersprochen werden. Das gilt ja nicht nur in der Politik, sondern bevorzugt auch in der Wirtschaft. Als Unwesen der Konkurrenz verhalten wir uns zwangsläufig wie Feinde zueinander. Auf dem Markt sowieso. Doch der prägt unser Leben, dimensioniert unsere Psyche. Man sieht, Gyurcsány ist knapp dran. Was hindert ihn eigentlich daran zu sagen: Wir haben das ganze Zeug satt und wir wollen keine Arschlöcher mehr sein. Das wäre der Punkt, wo Emanzipation begänne - aber da herrscht Stille.
Eine Politik, die sich ernsthaft Fragen stellt, kann sich nur noch in Frage stellen. So weit ist Gyurcsány nicht. Es ist ohnehin nicht ausgeschlossen, dass es sich letztlich um ein Manöver handelte, um die anstehenden budgetären Einschnitte den Opfer zu verklickern. Sie wird der Premier die Kurve kratzen und dem "ganzen Zeug" weiter als "Arschloch" dienen. Für einen Rücktritt besteht jedenfalls kein Grund. Es sollte ausreichen, dass Gyurcsány den Ungarn zu verstehen gibt, sie notfalls wieder anzulügen, und bei seinen Sitzungskollegen die Aufnahmegeräte konfisziert.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.