Der Allmächtl von Amstetten

Prozessauftakt In St. Pölten beginnt heute der Prozess im "Fall Amstetten". Doch Fritzl auf Fritzl zu reduzieren ist, als erklärte man die Inquisition aus dem Sadismus der Inquisitoren

St. Pölten ist nicht nur weltberühmt, es erscheint dieser Tage gar als Barbareihauptstadt des Kontinents. Die internationalen Medien sind vor Ort, die Hotels ausgebucht, die ganze Welt starrt auf die Stadt im Alpenvorland, die erst 1986 in einer fragwürdigen Volksbefragung zur niederösterreichischen Landeshauptstadt aufstieg. Vorher hatte das Land keine, die Landesregierung residierte in Wien, in der Herrengasse.

Ein geachteter Herr, das war auch der Angeklagte Josef Fritzl. Einer vom alten Schlag, Geschlagener und Schläger in einem. Der Allmächtl fungierte in seinen privaten Räumlichkeiten als unumschränkter Despot, selbstsicher wie selbstverständlich verfügte er über Zuwendung und Übergriff. In der Zeit, in der Fritzl selbst groß geworden ist, wurde das Schlagen von Kindern nicht nur geduldet, es war die gebräuchliche Form der Erziehung. Und damit sind nicht nur gelegentliche Watschen gemeint, sondern wahre Rituale der Züchtigung: systematisches Prügeln, stundenlanges Knien, tagelanges Einsperren, fortwährender Liebesentzug. Eine Studie über die häusliche „Privatgerichtsbarkeit“ in Österreich wäre durchaus von Interesse. Auch das Schlagen von Kindern in der Schule wurde erst in den siebziger Jahren sanktioniert und zurückgedrängt. Der sexuelle Missbrauch weiblicher Familienmitglieder galt sowieso als Bagatelle. Es ist noch gar nicht so lange her, da diskutierte man hierzulande, ob der Tatbestand der Vergewaltigung in einer aufrechten Ehe überhaupt klagbar sei.

Möglicherweise sind es weniger die Untiefen der Seele als die Oberflächen der Gesellschaft, die an Fritzl manifeste Konsequenzen zeitigten. Natürlich, sich an der eigenen Tochter 3.000 mal zu vergehen, sie und die mit ihr gezeugten Kinder viele Jahre in einem Keller einzusperren, das ist schon einmalig. Doch das sadistische Regiment, das patriarchale Gehabe oder die sexuelle Protzerei, das ist alles nicht so abwegig wie die Kommentare suggerieren. Unüblich ist nur die Dimension, nicht jedoch die Disposition.

Dass der Vergewaltiger ein Kavalier und Charmeur war und als respektiertes Mitglied der Gemeinschaft galt, widerspricht sich ebenfalls nicht. Solche Typen beherrschten die provinziellen Stammtische wie die lokale Wirtschaft, prägten die Vereine und Parteien. Er war nicht "keiner von uns". Nur so ist auch erklärbar, dass sein Verbrechen stattfinden konnte, eben weil die Umgebung viele Jahre nicht hinsehen wollte. Wenn die Richterin zu Prozessbeginn festhält, dass es hier um das „Verbrechen eines Einzelnen“ gehe, dann ist das juristisch richtig. Mehr jedoch nicht.

Die Konstitution des Typus erfolgt nicht aus dem Nichts. Niemand ist zum Vergewaltiger geboren. Mit dem Begriff „Monster“ wird Fritzl vom Alltäglichen ins Mythologische verschoben. Dort ist er uns anscheinend am Liebsten. So ist es ganz obligat, vom „Einbruch des Bösen in die Wirklichkeit“ zu sprechen, nicht jedoch vom Bösen in der Wirklichkeit. Das Böse wird als etwas Äußeres halluziniert, das da wie ein Naturphänomen über die Gesellschaft kommt, und somit in der individuellen Schuld und Verantwortung des Täters liegt. So funktioniert Entsorgung. Fritzl auf Fritzl zu reduzieren ist so, als erklärte man die Inquisition aus dem Sadismus der Inquisitoren.

Natürlich sind die Taten Fritzl nicht aus Werdegang und Umfeld unmittelbar ableitbar, aber ohne diese mit jenen in Verbindung zu setzen, kapituliert der Geist vor den Ereignissen. Die Gefahr einer vorschnellen oder falschen Antwort entsorgt die Frage nach dem „Warum“ nicht. Fritzl zu erklären, entschuldigt ihn nicht. Fritzl nicht zu erklären, hinterlässt hingegen nur Staunen und Ratlosigkeit. Das ist einerseits äußerst bequem, andererseits bedient es die Faszination des Rätselhaften. Lasset uns also weiterhin geschockt sein.


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