Die Zeiten werden rauer und ruppiger, auch im konsenssüchtigen Österreich. Mit der traditionellen Sozialpartnerschaft geht es langsam zu Ende. Die seit den Oktoberstreiks 1950 andauernde Zurückhaltung der Gewerkschaften ist mit dem politischen Streik vom 6. Mai jedenfalls Geschichte. Man setzt auf Konfrontation. »Genug ist genug«, sagte ÖGB-Chef Fritz Verzetnitsch bei der Präsentation des Streikbeschlusses. So wie es gewesen ist, wird es nie mehr sein. Selbst wenn die Sozialpartner ihre Sozialpartnerschaft retten wollen, wird jede Seite in Zukunft nur noch für ihre zerfallende Klientel retten wollen, was zu retten ist. Und das wird nicht viel sein. Auch für das Kapital nicht.
Der ÖGB konnte es sich freilich nicht mehr leisten, nichts zu tun. Die geplanten restriktiven Einschnitte bei den Pensionen waren einfach nicht hinnehmbar. Die österreichischen Gewerkschaften tun sich diesbezüglich leichter als etwa die deutschen, weil sie es mit einer rechten Koalitionsregierung zu tun haben. Denn eigentlich unterscheiden sich die Reformpläne der SPÖ ja kaum von jenen der schwarz-blauen Koalition. Das wissen sogar die liberalen Kommentatoren zu schätzen. Während sie die Gewerkschaftsleute als uneinsichtige Apparatschiks vorführen, halten sie die modernisierten Sozialdemokraten - die österreichischen Möchtegern-Schröders - für einsichtige Leute.
Entsteht eine breite populistische Front gegen den Neoliberalismus?
Und doch ist zu vermuten, dass auch die Gewerkschaften primär das Tempo stört, das Überrollt-werden, das Nicht-gefragt-werden. Die Regierung möchte das entsprechende Gesetz nämlich bereits am 4. Juni beschließen. Der nicht unbedingt gemäßigte Wilhelm Haberzettel, Vorsitzender der Eisenbahner-Gewerkschaft, schreibt: »Die Gewerkschaft der Eisenbahner verweigert sich nicht einer echten Reform zur nachhaltigen Sicherung der Pensionen. Eine solche kann aber nicht überfallartig mit teils drastischen Pensionskürzungen erfolgen, sondern muss unter Einbindung der Sozialpartner erarbeitet sowie sinnvoll und sozial ausgewogen umgesetzt werden.« Was heißt das? - Ohne Überfall würden wir schon weniger drastische Kürzungen mittragen? - Genau das. Das ist wohl auch, was Verzetnitsch eine »umfassende Pensionsreform ohne Schnellschüsse« nennt.
Es stellt sich außerdem ernsthaft die Frage, ob die Gewerkschaft wie lautstark angekündigt, wirklich ein schlafender Stier oder nicht doch eher ein altersschwacher Gaul ist. Ob das, was da stattfindet, einen neuen Aufbruch darstellt oder bloß ein leidvolles Rückzugsgefecht ist. Natürlich steht der ÖGB nicht allein da, die Sympathien in der Bevölkerung gehören ihm, die mächtige Kronen-Zeitung, der Bundespräsident, SPÖ und Grüne, ja sogar Teile der FPÖ (Haider) und ÖVP unterstützen mehr oder weniger seine Linie. Sogar Abgeordnete der Koalitionsparteien drohen, dass sie ohne gravierende Änderungen der anstehenden Pensionsreform im Parlament ihre Zustimmung verweigern. Viele dürfen das nicht sein, denn die ÖVP-FPÖ-Koalition hat im Nationalrat nur eine geringfügige Mandatsmehrheit. Trotzdem sollte niemand annehmen, dass, wenn diese Variante der Konterreform scheitert, nicht die nächste vor der Tür steht und die übernächste gelingt. Der Sachzwang erledigt dies, so oder so.
Augenblicklich scheint Kanzler Schüssel aber ziemlich isoliert zu sein. Außer der eigenen Partei unterstützen ihn gerade einmal die marktliberalen Trommler in den »unabhängigen« Medien. So musste er nun wider Willen einem vom Bundespräsidenten angeregten »Runden Tisch« zustimmen, nachdem sein freiheitlicher Vize, Herbert Haupt, ebenfalls einen solchen verlangte. Tja, man beginnt an neue Bündnisse zu denken, auch an scheinbar undenkbare. Am Wochenende kam es zu einem medial viel beachteten Treffen zwischen SP-Chef Alfred Gusenbauer und Ex-FP-Obmann Jörg Haider, um sich in der Pensionsfrage abzusprechen. Fast könnte man meinen, es entstehe eine breite populistische Front gegen den Neoliberalismus. Was das Taktieren betrifft, herrscht High Noon. Neuwahlen nicht ausgeschlossen.
Der aktuelle Hauptgegner Wolfgang Schüssels heißt aber Fritz Verzetnitsch. Der ÖGB-Präsident ist alles andere als eine charismatische Figur. Er wirkt eher wie ein guter Onkel und ist ein bedächtiger Sozialdemokrat und Sozialpartner der alten Schule, der am liebsten hinter geschlossenen Türen mit den Spitzen des Wirtschaftsbundes verhandelt und dann mit ihnen vor die Öffentlichkeit tritt, um die Ergebnisse zu verkünden. Will man es negativ ausdrücken, dann fehlt ihm die Eloquenz, positiv könnte man aber auch anmerken, dass er nichts Abgefeimtes oder Zynisches an sich hat. Als größte Schwäche bezeichnet er seine »Gutmütigkeit«. Anlässlich einer Fernsehdebatte schrieb Günther Nenning: »Dem gramgefurchten Gesicht des ÖGB-Präsidenten Verzetnitsch war´s in der Diskussion anzusehen, wie schwer er sich tut. Er weiß schon, dass er der Verlierer ist.«
Im Prinzip haben die Gewerkschaften keine Alternativen zu den herrschenden Sparvorhaben anzubieten, teilen sie doch alle gesellschaftlichen Vorgaben. Nach wie vor sagen sie vorbehaltlos ja zu Markt und Standort, ja zu Verwertung und Wachstum, ja zu Arbeit und Konkurrenz. Da sind sie unerschütterlich, zumindest vernimmt man hier absolut keine neuen Töne. Verzetnitsch vergleicht den Kapitalismus stets mit einer Kuh, die man kräftig füttern müsse, damit man sie ordentlich melken könne. Nur was ist, wenn die Kuh krank ist? Wenn sie auf keine Kur mehr anspricht?
Der Kapitalismus ist in ein auto-kannibalistisches Stadium getreten
Bei soviel grundsätzlicher Bejahung tut sich die konkrete Verneinung schwer, ist sie doch den selben Prämissen verpflichtet wie der vermeintliche Gegner. Zentral ist immer die Finanzierbarkeit. An der Kostenfrage wird nicht gerüttelt. Dass gespart werden muss, darüber sind sich alle einig - uneinig nur darüber wo. Dass Sparen vielleicht unsinnig ist, betrachtet man den Reichtum vom materiellen und ideellen Gesichtspunkt aus - eben nicht von der Kostenseite -, das will und will nicht in die Köpfe. Diese fetischistische Befangenheit im monetären Denken (»Was kosten?« - »Wer zahlen?«) diskutiert gesellschaftliche Möglichkeiten an den vorhandenen oder eben nicht vorhandenen finanziellen Mitteln. Gerade hier stünde ein Tabubruch an. Die obligate Frage, was die Gewerkschaften denn anderes tun können, muss somit zurückgewiesen werden. Umgekehrt: Wenn sie weiter das tun, was sie bisher getan haben, wird von den berechtigten Anliegen ihrer Klientel nichts übrigbleiben.
Kein Euro ist mehr sicher, Rentenreformen sind zum Alltag geworden - die letzte ist nicht die letzte gewesen. Die Sicherheit, die man heute verspricht, ist morgen bereits passé. Woran die Staatshaushalte alsbald gesunden sollen, das vermag niemand so recht zu sagen, weder die Regierung noch die Gewerkschaft. So präsentieren sie halt ihre Vorschläge, wem was und wie viel abgeschnitten werden soll.
Können die Regierenden also ihr restriktives Sparprogramm gar nicht mehr zurücknehmen? Kaum. Natürlich werden Schüssel Co in einigen Punkten überzogen haben, um gegebenenfalls der Gegenseite einen Kompromissvorschlag zu unterbreiten, den diese annehmen kann, ohne das Gesicht zu verlieren. Essenziell wird das nichts ändern.
Der chronisch gewordene Sozialabbau ist Resultat tiefer ökonomischer Verwertungskrisen, die auch die Wohlstandsinseln der nördlichen Hemisphäre immer weniger verschonen. Die große Illusion besteht nun darin, zu meinen, dass politischer Kampf und Wille ausreichen, damit im Großen und Ganzen alles so bleibt, wie es ist, dass man wie in alten Zeiten dem Kapital etwas abverlangen kann, ohne sich an die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse heranzuwagen.
Das heutige Pensionssystem ist nicht zu retten, gerade Linke, die etwas Ahnung von der Kritik politischer Ökonomie haben, sollten das wissen. Schüssel, Schröder oder Chirac mögen Totengräber sein, sie sind aber nicht verantwortlich für den Tod. Der Henker des Sozialen ist die gesellschaftliche Struktur selbst, die fortlaufende Rationalisierung und Entwertung macht vor nichts und niemanden halt. Kann diese Logik nicht überwunden werden, befinden wir uns lediglich in einer Etappe eines langen Leidensweges, der in der Barbarei endet. Die Marktwirtschaft ist jedenfalls im Begriff, den ruhigen Lebensabend der Menschen abzuschaffen.
Erste Vorschläge, bis 80 (nicht vertippt: achtzig!!) zu arbeiten, wie soeben der Wiener Wirtschaftsprofessor Erich Streissler gefordert hat, legen davon Zeugnis ab. Die Pensionen werden zu Tode gespart und die Rentner gleich mit. So stehen sich zynische Regierungspolitik und hilfloser Widerstand gegenüber. Beide ratlos. Der Kapitalismus ist in ein autokannibalistisches Stadium getreten. Er beginnt selbst in den Zentren des Kapitals zu marodieren. Jeder frisst jeden. Während der Boden der Marktwirtschaft wegbricht, bekennen sich Herrschaft und Opposition geradezu frenetisch zu deren Grundlagen. Je unmöglicher der Kapitalismus wird, desto entschiedener beharrt man darauf, dass er doch regulierbar wäre, würden nur die Richtigen das Richtige tun.
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