Eigentlich gibt die Bundesverfassung, konkret der Art. 141 B-VG, keine Wahlaufhebung her. Einer Wahlanfechtung ist nur dann stattzugeben, „wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war“. Ersteres ist zwar der Fall, letzteres keineswegs. Faktum bleibt, dass am 22. Mai bei der Stichwahl zwischen Norbert Hofer und Alexander Van der Bellen die Verletzungen der Wahlordnung von völlig untergeordneter Bedeutung waren und auf das Ergebnis keinerlei Einfluss hatten. Vom Indikativ flüchtete der Verfassungsgerichtshof (VfGH) indes in den Konjunktiv. Gerhart Holzinger, der Gerichtspräsident, hielt eindeutig fest, dass es keiner tatsächlich nachgewiesenen Manipulation bedürfe, um die Wahl aufzuheben, sondern dass schon allein die Möglichkeit der Manipulation reiche, damit die Wahl wiederholt werden müssen.
Alfred Noll, Professor für Öffentliches Recht in Wien, schreibt: „Der VfGH hat in langjähriger Praxis den expliziten Text der Verfassung gehörig umgeformt und prüft nicht, ob die behauptete Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis einen Einfluss hatte, sondern ob diese Rechtswidrigkeit einen Einfluss haben konnte. Das macht einen Unterschied. Damit hat er die in der Verfassung aufgestellte Frage nach dem tatsächlichen Einfluss von Gesetzesverstößen auf das Wahlergebnis geändert in die Frage danach, was hypothetisch von Einfluss sein kann bzw. könnte.“
Scheinbar mühelos gelang es den Verfassungsrichtern, aus einigen Unregelmäßigkeiten einen Verfassungsbruch zu zimmern. Nach diesen strengen Kriterien hätte man wohl ausnahmslos alle Bundeswahlen der vergangenen Jahrzehnte wiederholen müssen. Der Wahlgang im Mai stellte keine wie immer geartete Ausnahme dar, Modus und Routine der Behörden waren nicht anders.
Jäh empört
Die für die Wahlkarten zuständigen Bezirkswahlbehörden fühlten sich, nicht zu Unrecht durch die stete Zunahme der Briefwähler überfordert. So glaubten manche, die Auszählung beschleunigen zu müssen, indem sie etwa schon am Sonntag (statt Montag) begannen oder gleich auf die Beisitzer der Parteien verzichteten – meist mit deren Wissen und Zustimmung. Auch gab es Druck vom Innenministerium, zeitgerecht fertig zu werden. Zudem wollten diverse Medienvertreter wissen, wie es denn stehe. Das war bekannt und wurde von allen nun empörten Obrigkeiten geduldet.
Wenn Entsetzen und Erstaunen sich derart aufpudeln, stellt sich meist die Frage, was ausgeblendet werden soll. Vertuscht werden soll, dass dieses Procedere seit Jahrzehnten eingespielt ist und auch niemanden störte, da es für alle Beteiligten – Innenministerium, Medien, Wahlbehörden, Wahlbeisitzer, Parteien – praktikabler gewesen ist. Die Schuld auf die Bürokratie und ihre Handlanger, die Wahlzeugen der Parteien, zu schieben, ist ausgesprochen billig. Verfassungslosigkeit ist mehr bei den Verfassungsrichtern als bei den Wahlbehörden auszumachen.
Der Nachgeschmack ist auf jeden Fall bitterer als die Vorgehensweise. Denn das Urteil der Verfassungsrichter bestätigt implizit den Verdacht der Manipulation des Abstimmungsergebnisses, auch wenn jene dezidiert darauf hinweisen, dass es dafür keine Indizien geschweige denn Beweise gibt. Das Gerücht, höchstgerichtlich aufgeladen, wird von den Freiheitlichen unverschämt weiterverbreitet. Irgendwas wird schon gewesen sein. Der Superlativ des Konjunktivs ist die blanke Halluzination. Nicht wenige FPÖ-Sympathisanten werden sich in ihren Verschwörungstheorien direkt beflügelt sehen. In den sozialen Medien tobt es sich richtig aus.
Pure Heuchelei
Im Prinzip ist das Ganze eine immens aufgeblasene Geschichte, auch wenn sich das kaum jemand zu sagen traut. Da wurde aus der Lässigkeit eine Fahrlässigkeit und aus dieser ein Rechtsbruch ungeheurer Dimension. Für den fraglos lockeren Umgang der Wahlbehörden müssen die Österreicher nun ein drittes Mal innerhalb eines Jahres den Versuch starten, einen Bundespräsidenten zu wählen. Das alles belastet die Politik nachhaltig. Die FPÖ hat das vordergründig nicht nur in Kauf genommen, sondern darauf spekuliert. Zweifellos ist sie die Nutznießerin dieser juristischen Kontroverse, selbst wenn Van der Bellen sich nochmals gegen Hofer durchsetzen kann.
Die devote, ja geradezu peinliche Selbstgeißelung der Systemträger ist nicht nur unrühmlich und unerträglich, sie ist auch pure Heuchelei. Wenn der bis 8. Juli amtierende Bundespräsident Heinz Fischer meint, dass die Demokratie eine Bewährungsprobe bestanden habe und er stolz darauf sei, dann bedankt er sich, ohne es zu wollen, bei Heinz-Christian Strache, dessen Wahlanfechtung diese Entscheidung erst ermöglichte. Insofern kann sich die FPÖ durchaus als Etappensiegerin fühlen. Sie bestimmt die Themen, sie macht die Vorgaben, sie sagt, wo es langzugehen hat. „Man muss der FPÖ dankbar sein, weil sie zeigt, wie verlottert unsere Institutionen mittlerweile sind“, schreibt die Boulevardzeitung Österreich.
Während das offizielle Österreich den Spruch ganz parteiübergreifend als Lebenszeichen der Demokratie deutet, erscheint auf internationaler Ebene diese Annullierung einer Wahl aus formalen Gründen als einzigartige Blamage und enormer Schaden. Österreichs Rechtsstaat entpuppe sich dabei weniger als „robust“ (Kanzler Kern) denn als marode. Dieser Eindruck mag zwar überzogen sein, doch angeschlagen ist er zweifellos, weniger wegen der Schlampereien, sondern weil man diese bewusst (FPÖ) oder bewusstlos (Verfassungsgericht) zur Staatsaffäre stilisierte.
Das Bundespräsidentenamt ist nun über den Sommer verwaist. In dieser Zeit führt ein Dreierkollegium der Nationalratspräsidenten die Geschäfte des Staatsoberhaupts. Das war bisher, etwa wenn ein Amtsinhaber während seiner Amtszeit verstorben ist, schon einige Male der Fall. Pikanterweise sitzt in diesem Kollegium aber auch der Dritte Nationalratspräsident namens Norbert Hofer. Er ist in den nächsten Wochen sozusagen Kandidat für das Amt, das er gleichzeitig schon provisorisch wahrnimmt. Ned deppert.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.