Wer hätte das gedacht? Vor zwei Jahren noch erklomm der Quereinsteiger Christian Kern gleich einem „Messias aus dem Musterknabenkatalog“ Kanzleramt und SPÖ-Vorsitz. Doch schon im letzten Herbst war das Intermezzo als Regierungschef Geschichte. Der ehemalige Manager hatte die Nationalratswahl gegen Sebastian Kurz von der ÖVP verloren und versuchte sich fortan als glückloser Oppositionsführer. Da wollte kein Wind aufkommen, von neuerlicher Euphorie ganz zu schweigen. Schnell war ein Hoffnungsträger an sein Ende gelangt. Der völlig tollpatschige Abgang in zwei Etappen komplettierte noch den tiefen Fall. Zum Schluss erschien der Macher als beleidigtes Männlein.
Manchmal trat Kern geradezu stümperhaft auf, vor allem in taktischen Fragen war er alles andere als sattelfest. Ein Schnitzer folgte dem nächsten. Selten durchschlagskräftig, manchmal geradezu feige. Einige Male versäumte er die Chance, Neuwahlen anzusetzen und seinerseits die Turbulenzen in der ÖVP (die bereits auf unter 20 Prozent abgesackt war) auszunutzen. Selten hat einer in so knapper Zeit so oft seine Ankündigungen gebrochen wie Kern. Das war nicht zu kaschieren, das war offensichtlich. Der Missmut war den Seinen anzumerken wie ihm selbst.
Verstolperter Ausstieg
So richtig angekommen in der Politik ist Christian Kern nie. Trotz des stets betonten „Ich bin ein Arbeitersohn aus Simmering“, war er kein Kind der Partei, man fremdelte. Wobei da niemand eine Verschwörung angezettelt hatte, es war vielmehr eine heimliche wie unheimliche Meuterei auf allen Decks, die Kern zu Fall brachte. Das ständige Murren zeitigte große Folgen. Als er sich dann auch noch beim ersten Teilrücktritt zum Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten zur Europawahl im Mai 2019 ausrief, reichte es den Genossen endgültig. Und nicht nur ihnen, sondern einige Tage später auch ihm. Er stolperte regelrecht ins Out. Kern war aber nicht Motor der Krise, sondern lediglich Keilriemen. Von der Episode Kern wird in der SPÖ nicht viel hängen bleiben, weniger als von seinem Vorgänger Werner Faymann, der sich zumindest acht Jahre in seinen Ämtern gehalten hat.
Von da an ging's bergab
Sonnenkönig
Unter Bruno Kreisky als Chef (1967 – 1983) ist die SPÖ unangefochten Nr. 1 im Land und hat auch in der Sozialistischen Internationale etwas zu sagen
Interregnum
Für Fred Sinowatz – er führt die Partei 1983 bis 1988 – erweist sich das Kreisky-Erbe als Bürde, doch profiliert ersich als Sozialpolitiker
Nadelstreif
Mit der Sanftheit des distinguierten Diplomaten überzeugt Franz Vranitzky (1988 – 1997) die SPÖ vom EU-Beitritt Österreichs
Prima Klima
Der Vranitzky-Nachfolger Viktor Klima, SPÖ-Vorstand 1997 – 2000, verliert dasKanzleramt an die ÖVP, die mit der FPÖ von Jörg Haider koaliert
Restaurator
Alfred Gusenbauer hält sich bis 2008 als SPÖ-Chef, er führt die Partei und sich 2007 wieder an die Regierungsspitze, heute ist er u. a. Bankenberater
Baumeister
Werner Faymann verbringt acht Jahre an der SPÖ-Spitze. Er ist bis 2016 u. a. Kanzler und zuvor Minister für Städtebau und Innovation
Macher
Als Ex-Chef der österreichischen Bahnen will ein Christian Kern frischen Wind in die SPÖ bringen, verliert eine Wahl, zieht sich aber erst jetzt zurück
Seltsam unprofessionell war das, gerade auf dem politischen Parkett erwies sich Sebastian Kurz im Gegensatz dazu als Profi und somit als überlegen, da mochte Kern intellektuell noch so viel mehr im Kasten haben, das interessierte kaum. Ob der Aufstieg des Kontrahenten substanzieller Natur ist, darf bezweifelt werden. Manche medialen Blasen halten sich länger als andere. Das Einzige, was Kurz bisher vorzuweisen hat, ist sein Wahlerfolg vor einem Jahr. Der war, genau betrachtet, gar nicht so groß, aber für die ÖVP-Granden doch ausreichend, sich dem Youngster auszuliefern. Die ÖVP ist nicht weniger marode als die SPÖ. Ein wichtiger Unterschied zwischen Kern und Kurz war auch einer der mentalen Haltung: Christian Kern hatte Skrupel, Sebastian Kurz weiß nicht einmal, dass er keine hat.
Es ist nicht nur eine heikle Situation, in der die SPÖ nun steckt – es ist eine verfahrene. Fast beschleicht einen das Gefühl, dass jede Aktivität nach hinten losgeht. So ist es wiederum kein Wunder, wenn auf Drängen der SPÖ-Wien sogar die groß angekündigte Statuten-Reform zurückgenommen wurde. Weitermachen wie bisher, geht freilich auch nicht. Nicht nur Kern wurde demontiert, Gleiches geschah den Kern’schen Vorhaben: gegen unbegrenzte Mandatsdauer, gegen Ämterhäufung und Mehrfachbezüge, für höhere Solidaritätsabgaben, Urabstimmungen in der Partei und Einführung provisorischer Parteimitgliedschaften. Alles wurde auf Eis gelegt. Dass 70 Prozent der SPÖ-Mitglieder sich bei einer Mitgliederbefragung erst im Juni dafür ausgesprochen hatten, interessiert auf einmal nicht mehr. Der Apparat will nicht.
Doch hat der Apparat wiederum nur die Chance, Apparat zu bleiben – der „Regierungspartei“ SPÖ macht der Verlust der Regierungsämter immens zu schaffen! –, wenn er sich seiner Führungsfigur ausliefert. Auch wenn nichts funktioniert, das Starprinzip muss funktionieren. Von der Medienindustrie getrieben, kennt der politische Alltag keine Verschnaufpause mehr. Politik gleicht dem Hamsterrad. Wer nicht läuft, fällt durch das Gitter, und wer läuft, kommt auch nicht weiter. Zurzeit behilft sich die SPÖ (vor allem die Wiener Organisation), indem sie ihr Arrangement mit dem Boulevard geradezu verinnerlicht. Wozu Akzente setzen, wenn Umfallen leichter ist. Die religiöse Betonung der sozialdemokratischen Grundwerte gleicht hingegen hilf- und gedankenlosen Stoßgebeten. Das sind Werbereflexe zunehmender Desorientierung.
Etabliertenschmelze
Die Verschärfung des politischen Treibens ist nicht nur ein Kennzeichen der Rechten. Sie wird ebenso in der linken Mitte gepflegt. Denken wir etwa an die zunehmend restriktiven Vorschläge in der Ausländerpolitik. Die aktuell noch unter Kern beschlossenen Leitlinien zur Migrationsfrage sind eine Light-Ausgabe des Regierungsprogramms von ÖVP und FPÖ. Die SPÖ gibt damit implizit zu, dass sie im Prinzip nichts anderes möchte als das, was die anderen bereits vorzeigen. Die Differenz ist minimal, einige Rechtsausleger in der Sozialdemokratie – etwa der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl – überholen Schwarz-Blau gelegentlich rechts außen. Locker.
Die Kernschmelze der etablierten Parteien, nicht nur der SPÖ, schreitet hurtig voran. Zusehends werden sie zu einstürzenden Altbauten, zu geradezu tragikomischen Gebilden, wo Eigeninteressen, PR-Strategien und Realitäten ständig kollidieren. Immer mehr Politiker fliehen der Politik. Der Rückhalt zerbröselt, oder besser gesagt, er wird zu einer rein konjunkturellen Größe. Bei der SPÖ war das bis vor einigen Jahren weniger auffällig, da die Partei eine Geschlossenheit simulierte, die sie nicht hatte, ganz ähnlich übrigens der ÖVP seit dem Amtsantritt von Sebastian Kurz. Niederlagen zeigen deutlich, was Wahlerfolge verschleiern. Krisen machen diese Diskrepanz sichtbar. Wir leben in Zeiten, in denen das traditionelle westeuropäische Parteiensystem in Auflösung begriffen ist.
Auffällig ist außerdem dieses: Erstmals hat sich in der SPÖ wirklich niemand für den Vorsitz vor- und aufgedrängt. Kern ist zwar weg, aber die Seinen bleiben. Pamela Rendi-Wagner, für einige Monate Gesundheitsministerin im Kabinett Kern, wird im November den Parteivorsitz übernehmen. Politisch ist sie nicht vorbelastet, aber auch ziemlich unbedarft. Und dann ist da noch Thomas Drozda, jetzt Bundesgeschäftsführer, unter Kern Kanzleramtsminister. Die Führungsriege der Partei ist allerdings nicht identisch mit den Schwergewichten derselben, allen voran wären der neue Wiener Bürgermeister Michael Ludwig und der designierte burgenländische Landeshauptmann, Hans Peter Doskozil, zu nennen. Konflikte sind bloß aufgeschoben.
Ansonsten geht es wieder einmal seinen obligaten Gang. Rendi-Wagner wird zum „Shootingstar“ ausgerufen, auf öffentlichen Konferenzen erhält sie stehende Ovationen. Man ist ganz angetan. Vorerst. „Ich bin nicht Christian Kern“, sagt die Neue. Ja, schon, aber das kann noch werden. Sie wird es jedenfalls nicht leicht haben, das zeigen die ersten kleineren Scharmützel. Indes müssen die Funktionäre der SPÖ sich hüten, noch einmal binnen kurzer Frist das gleiche Spiel zu spielen. Ob ihnen das entgegen der Eigendynamik gelingt, ist fraglich. Wenn es nicht gelingt, dann wird die SPÖ sehr bald das Schicksal der SPD oder der französischen Sozialisten erleiden. Der Trend läuft sowieso in diese Richtung. Die europäische Sozialdemokratie ist ein Auslaufmodell, die Perspektive trist.
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