Innerhalb von Wochen hat sich in Österreich eine Law-and-Order-Politik durchgesetzt, wie sie in dieser Schärfe wohl kaum jemand prognostiziert hätte. Eine „Wirklichkeitskultur“, wie das ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner nennt, hat binnen Wochen die Willkommenskultur abgelöst. „Wir brauchen einen nationalen Schulterschluss“, sagt Kanzler Werner Faymann (SPÖ), also wird dieser ultimativ zelebriert. Man staunt nur so. Die letzten Vorbehalte sind gefallen. Die viel beschworene zivile Gesellschaft hingegen wirkt wie paralysiert.
Vor allem Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP), Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) wie der neue Verteidigungsminister, der einstige burgenländische Polizeidirektor Hans Peter Doskozil (SPÖ), agieren wie ein Frontkomitee zur Abwehr der „Ausländerflut“. Die Sprache hat es in sich. „Hart“ ist zum Lieblingsadjektiv aufgestiegen. Von „harten Maßnahmen“ bis zum „harten Durchgreifen“ reicht das Repertoire einer Politik, die „hart bleiben will“ und permanent Härtefälle produziert. Natürlich gelte es eine „Festung zu bauen“. Es klingt wie der Rap einer Straßengang.
Im Wettbewerb der Restriktionen, in der Konkurrenz der Zurückweisungen und Obergrenzen, da ist man nun gut aufgestellt. Applaus von fast allen Seiten ist der Regierung sicher. Politik und Medien sind sich weitgehend einig, dass der Kurs stimmt. Einwände gibt es kaum. Gewonnen hat vorerst ein Patriotismus, der zwischen Herzlosigkeit und Hinterfotzigkeit, Borniertheit und Peinlichkeit sein rot-weiß-rotes Lager aufgeschlagen hat.
Sozialdemokraten und Konservative haben sich glückselig auf der Linie der FPÖ eingefunden. Ab und zu wird deren Parteichef Heinz-Christian Strache rechts überholt, was diesen bloß stärkt. Die Tage, als der Wiener Bürgermeister Michael Häupl Flagge zeigte oder Kanzler Faymann den Kompagnon von Angela Merkel machte, scheinen wie weggeblasen. Das gesamte Spektrum rückt nach rechts, selbst die Grünen liefern sich eine schiefe Debatte, wo einmal mehr ein sattsamer Realismus dem hehren Idealismus obsiegen wird.
Mit der Westbalkan-Konferenz vor Wochenfrist in Wien versuchte man, besonders gegenüber Brüssel und Athen vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Zeit des Durchwinkens ist zu Ende. Doch damit stopft man bestenfalls Löcher, die anderswo bald wieder aufreißen werden. Vorerst allerdings feiert man den Rückgang der Asylbewerber als Erfolg.
Da ist gut gackern
War man bis gestern noch bereit, Griechenland zu entlasten, so sind jetzt immer schrillere Töne gegen das Mittelmeerland zu vernehmen. So pfiff der junge Außenminister auf alle diplomatischen Gepflogenheiten, als er weder Griechenland noch Italien zum Westbalkan-Meeting einlud, was zu größeren Verstimmungen führte, ja sogar den Abzug der griechischen Botschafterin zur Folge hatte.
Hellas soll gefälligst einen gesamteuropäischen Grenzwächter spielen. Indes wollen die Griechen nichts anderes, als einen beträchtlichen Teil der nach Europa (nicht nach Griechenland!) flüchtenden Menschen an die reicheren Länder weiterreichen. Ihnen das zu verdenken zeigt die geballte Ignoranz der begüterten Geschwister, ihrer Medien, aber auch ihrer Bevölkerungen. Griechenland, das (geografisch) auf dem Weg liegt, soll sich also in den Weg stellen. Doch was heißt aufhalten? Boote bei der Überfahrt rammen? Menschen nicht mehr verpflegen? Illegale Grenzübertritte mit Gefängnis bestrafen? Die türkische Küste beschießen? In Wien ist gut gackern. Vorläufig hat das zur Folge, dass tausende Schutzsuchende in Griechenland unter erbärmlichen Bedingungen festsitzen. Eskalationen werden sich häufen.
Das mehr duldende als aktive Durchwinken mag ja etwas ratlos gewesen sein, aber es akzeptierte zumindest die Lage der Flüchtlinge und den Grundsatz, dass es mehr darum gehe, Menschen statt Grenzen zu schützen. Damit ist es nun vorbei. Empathie war gestern. Antipathie ist heute. Wenn Faymann an Alexis Tsipras hemdsärmelig appelliert: „Hör auf, Flüchtlinge durchzuwinken“, so müsste er seinem Amtskollegen erstens eine Alternative nennen und zweitens dürfte er nicht verschweigen, dass Österreich selbst Meister im Durchwinken gewesen ist. Nein zum Reinwinken, Ja zum Rauswinken war stets das geheime Motto in Wien.
Derzeit wird versucht, anderen EU-Staaten den eigenen Kurs aufzuzwingen. Da sind Faymann und Kurz nicht die Ersten und wohl auch nicht die Letzten. Dass ein solches Vorgehen das gesamteuropäische Projekt an die Wand fährt, wird wahrscheinlicher. Inkompetenz zeigt sich schon darin, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Nicht nur das Flüchtlingsdesaster demonstriert elementare Schwächen der EU. Vor Monaten drohte ein Grexit, inzwischen droht ein Brexit, gegenwärtig kollabiert die Flüchtlingspolitik. Krisenverwaltung ohne Perspektive. EU-Europa ist handlungsunfähig, den großen Herausforderungen der Zeit nicht gewachsen, daher blüht allerorten ein schräger Nationalismus auf.
Die jüngste Wendung Österreichs offenbart, dass Europa nicht bloß gefordert, sondern restlos überfordert ist. Zu suggerieren, kleinere Einheiten wie Nationalstaaten könnten diese Causa befriedigend lösen, ist als Anmaßung getarnter Unsinn. Aber es ist nicht nur der Wille, der versagt, oder die böse Absicht, die sich durchsetzt: Es wird immer klarer, dass die staatlichen und rechtlichen Instrumentarien nicht für solche Elementarereignisse konstruiert sind. Sich aber auf Stimmungen und Meinungsumfragen zurückzuziehen, ist fahrlässig und inakzeptabel. Wenn Kanzler Faymann argumentiert, dass er Rückhalt in der Bevölkerung spüre, dann spricht das weder für diese noch für ihn.
Das Spiel wird brutaler
Globalisiert man ungeniert wirtschaftliche und militärische Interessen, so betreibt man, was das humane Potenzial betrifft, eine Abschottungspolitik. Frei sind Waren und Waffen, unfrei der Mensch. Eine zentrale Frage hätte zu sein, was denn mit den Menschen auf der Flucht jetzt geschehen soll. Wie es ihnen geht. Ob sie genug zu essen kriegen. Ob sie frieren. Ob die medizinische Versorgung hinreicht. Kurzum: Wie wir ihnen helfen können. Stattdessen geht es immer wieder um die vermeintlichen Kosten und um die letztlich völkischen Vorurteile eingebildeter Eingeborener. Diese werden hofiert wie aktiviert. Sollen jene doch bleiben, wo sie sind. Was gehen uns die an? Willkommen im Zeitalter der europäischen Dilemmata.
Das kopflose Agieren in Nahost oder Nordafrika rächt sich bitter. Der ideelle Zündstoff und die reellen Waffen wurden und werden zum Großteil von westlichen Staaten, von Medien und Konzernen geliefert, gelegentliche Interventionen und regelmäßige Bombardements inklusive. Es ist die gescheiterte Weltinnenpolitik einer Globalisierung, die nun als Flüchtlingsstrom nach Europa zurückkehrt.
Auch wenn man der Türkei Milliarden überweist, damit die Flüchtlinge dort zurückgehalten werden, weiß niemand, ob dieses Kalkül aufgehen kann. Die Rechnung wird im Übrigen ganz ohne die Betroffenen gemacht, sie erscheinen hier als Manövriermasse, die einfach zu steuern ist. Wer sagt, dass sich die Flüchtlinge gefallen lassen, worauf Erdoğan und Merkel sich gegebenenfalls einigen? Warum sollten sie?
Die anstehenden Probleme werden nicht in ihrer Komplexität gesichtet, sondern als unliebsame Phänomene autoritären Lösungen zugeführt. Das begreift zwar nichts, findet aber Zuspruch. Die Dimension der Geschehnisse wird nur ansatzweise erkannt. Dass hier die Konvention selbst gesprengt werden könnte, bleibt außen vor. Erschwert man also noch einmal die Bedingungen für Flucht und Asyl, führt dies einerseits in humanitäre Katastrophen, andererseits lässt es die Preise für Fluchthilfe in die Höhe schnellen. Flüchtlinge und Schlepper sind jedenfalls am Zug, Routen und Kriterien werden sich ändern, das Spiel wird brutaler. Aus ist es keinesfalls.
Alles läuft aus dem Ruder – Flüchtlingsboote, die EU-Kommission, die Nationalstaaten, die Menschenrechte und – was wohl am gefährlichsten ist – der sich als Volk verstehende Mob in etlichen europäischen Ländern. So kippt vieles ins Maßlose oder entpuppt sich als das Schamlose. Man hat das Gefühl, niemand habe mehr Lösungen parat. Sitzungen und Gipfel, die absolut nichts bringen, häufen sich. Das Drohpotenzial, das man gegenüber Griechenland in der Schuldenfrage noch einmal auffahren konnte, wird sich gegenüber den Völkerwanderungen als hilflos erweisen, aber es wird Opfer kosten.
Die EU-Institutionen sind in diesem Realszenario mehr Kommentator als Akteur. Aber Rat- und Tatenlosigkeit sind noch allemal besser als die in Gang gesetzte patriotische Kraftmeierei, die primär böses Blut macht, deren Affekte Effekte zeitigen, die nur noch jenseits sind. Es herrscht die aufgeregte Performance einer politischen und medialen Wutkultur. Seriöse Urteile und Folgeabschätzungen halten sich in engen Grenzen. Wir gegen die, heißt die barbarische Botschaft. Und die versteht der letzte Trottel. Die Betrachtung wird kurzsichtig, und die Handlung wird grobschlächtig. Falsche Politik gerät in den Malstrom ihres stetigen Komparativs: „Es wallet und siedet und brauset und zischt.“ (Schiller)
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