Lockerung, Verlockung

Österreich Kanzler Kurz simuliert den Macher, und das bisher recht erfolgreich. Prompt wollen alle mit seiner ÖVP regieren, auch die Sozialdemokraten
Ausgabe 06/2021
Sebastian Kurz wechselt seine Partner notfalls wie die Mund-Nasen-Maske
Sebastian Kurz wechselt seine Partner notfalls wie die Mund-Nasen-Maske

Foto: Imago Images

Hoffart war gestern, Verlockung ist heute. Zumindest versucht er es – Kanzler Sebastian Kurz hat seine Taktik modifiziert, erstmals geht er auf die Opposition, besonders die SPÖ zu. Seine ÖVP sitzt auch deswegen so fest im Sattel, weil gegen sie nicht regiert werden kann, und – allen Dementi zum Trotz – alle mit ihr regieren wollen. In der Asylfrage spielt sie etwa die FPÖ gegen die Grünen aus, umgarnt zuletzt aber zunehmend die Sozialdemokraten, deren Großkoalitionäre wohl auch gegen einen fliegenden Regierungswechsel nichts einzuwenden hätten. Der Kanzler ist Optionsweltmeister, der notfalls die Partner wie die Unterhose wechselt. Kurz ist da ganz offen, er nimmt alle.

Die Grünen geraten dadurch zusehends unter Druck. Ausgelöst durch die brutale Abschiebung zweier Schülerinnen samt ihren Familien nach Georgien und Armenien, haben sich die Differenzen zu einer veritablen Koalitionskrise zugespitzt. In puncto humanes Bleiberecht wird es aber kaum je einen Konsens geben. Vizekanzler Kogler und die Seinen mögen protestieren, auszurichten vermögen sie nichts. Einerseits können sie nicht immer nur zuschauen und nachgeben, andererseits wollen sie die Koalition auf gar keinen Fall verlassen. So zappeln sie im Bündnis und werden von der ÖVP wie der Opposition zuweilen regelrecht vorgeführt.

In Sachen Pandemie sind Kurz und sein grüner Gesundheitsminister Rudi Anschober Getriebene. Anschober ist das auch anzumerken, Kurz hingegen simuliert den Macher, und das weiter recht erfolgreich. Sie wissen zwar nicht so recht, was sie tun, aber dass sie was tun müssen, das wissen sie. So tun sie und verkaufen das unmittelbar Verkündete stets als Weisheit letzter Schluss, mögen sie gestern auch noch ganz anderes geredet haben.

Seit Anfang der Woche wird der Lockdown nun gelockert, Geschäfte dürfen wieder öffnen, auch zum Friseur, ins Nagelstudio und ins Museum darf man. Restaurants bleiben aber weiterhin geschlossen, ebenso wird es keine Kultur- und Sportveranstaltungen mit Publikum geben. Schon vorher wurde eine FFP2-Maskenpflicht eingeführt, auch wenn die EU-Agentur ECDC (Europäisches Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten) diese Masken im Vergleich zu anderem Mundschutz für wenig sinnvoll hält und auf Kosten wie Nachteile verweist. Freilich kann man auch nicht sagen, dass es sich hier um klassische Fehlentscheidungen handelt. Die Bedingungen, fundierte Beschlüsse zu fassen, sind begrenzter, als man meint.

Dekret statt Debatte

Hoch im Kurs stehen fortgesetzt die berufenen Experten, eine vorselektierte Sorte von Virologen und Epidemiologen, Mathematikern und Statistikern. Sie beherrschen das öffentliche Bild. Dabei handelt es sich um Personen, die von den Einschränkungen kaum betroffen sind, aber manch anderen Auflagen zumuten, die diese auf Dauer weder aushalten noch durchhalten. Am Rechner werden quasi im Großversuch Maßnahmen entworfen, die der Alltagsroutine vielfach widersprechen. Ihre Praktikabilität hat soziale Grenzen. Die Aufhebung des letzten Lockdowns vollzog sich daher auch schon vorab ohne politische Genehmigung, man brauchte nur durch Wien zu laufen (was man eigentlich nur sehr begrenzt durfte), um festzustellen, dass die Verriegelung des öffentlichen Raums porös ist. Die Regierung hat wohl nachgegeben, wollte sie doch von der Macht der Wirklichkeit nicht blamiert werden. Nach den propagierten Kriterien hätte man in dieser Woche wegen der Häufung der südafrikanischen Virusmutation Tirol in Quarantäne schicken müssen. Man traute sich nicht. In der ersten Runde siegten die regionalen Fürsten. Ischgl zum Trotz. Erst mühsam konnten Maßnahmen gesetzt werden, zurzeit gilt eine Reisewarnung für Tirol.

Die Skepsis in der österreichischen Bevölkerung ist insgesamt recht hoch, daher muss sie auch mit allen Mitteln der Reklame traktiert werden. Man sieht das an den flächendeckenden Impfkampagnen. Die Erzeugung von Angst ist ein probates Mittel der Seuchenpolitik. Die Debatte ist durch das Dekret ersetzt worden: Gemeinhin verständigt man sich auf die Anrufung von Fakten. Zahlen, Daten, Fakten sind indes nicht einfach gesetzt, sondern werden geschaffen, sie sind keine objektiven Tatsachen, sondern werden prozessual ermittelt. Dass gänzlich unterschiedliche Fälle summiert unter sinnwidrigen Kategorien wie „Infizierte“ oder „Genesene“ firmieren, spricht Bände – Märchenbände. Dass es die Fakten nicht gibt und ebenso wenig die Wissenschaft, ist in Vergessenheit geraten.

Dem gängigen Vorurteil zum Trotz: Fakten sprechen nicht für sich, Fakten werden gesprochen, um das inhaltliche Denken und Argumentieren weitgehend abzulösen. Augenblicklich ist man so fixiert auf das Virus, dass man die überbordenden Kollateralschäden nicht adäquat wahrnimmt. Es herrscht Verdrängung, und die Grippe ist in Österreich aus Verärgerung fast ausgestorben. Corona, es sagt schon der Name, ist zur Königskrankheit geworden, alles andere ist von mäßiger Bedeutung. Die Gefahr, an Covid-19 zu versterben, ist allerdings um vieles geringer, als anderweitig letalen Schaden zu nehmen. Mortalität ist keine Frage der Infektion, sondern eine der Konstitution.

Corona – ja oder nein?, das ist hier die exklusive und exkludierende Frage. Dass die meisten anderen Krankheiten im Lockdown schlechter versorgt werden, geht trotz aller Beschwerden in diesem Ausnahmeszenario unter. Jetzt krank zu werden, ist doppelt unlustig. Ausbaden müssen das jene, deren Operationstermine verschoben, die von Spitälern abgewiesen oder von Ärzten vertröstet werden. In Angst versetzte Patienten fürchten sich, entsprechende medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Manche geraten an ihr Limit. Nicht wegen Corona, sondern wegen der Maßnahmen gegen Corona. Noch größere Wirkungen als die Wirkungen entfalten die Nebenwirkungen.

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