Rettet das Virus unser Leben?

Österreich Der Alltag mit Corona verliert an Tempo und Lärm, sogar die Industrie wird heruntergefahren. Hyperaktiv ist nur die Regierung
Ausgabe 13/2020
Der Skitourismus ist in Österreich bis auf weiteres beendet. Für die Natur ist das nicht allzu schlecht
Der Skitourismus ist in Österreich bis auf weiteres beendet. Für die Natur ist das nicht allzu schlecht

Foto: Barbara Gindl/AFP/Getty Images

Wer es sich leisten kann, aufs Land zu flüchten, hat es getan. Das erkennt man in Wien an den freien Parkplätzen und den nicht erleuchteten Fenstern. Da fährt ein städtischer Linienbus vorbei, doch außer dem Fahrer sitzt niemand in ihm. In der Stadt ist es so ruhig wie schon lange nicht. Es kann sich wohl niemand mehr erinnern, wann es je so still gewesen ist, nur die Lebensmittelgeschäfte haben geöffnet. Die Schwiegermutter im nahen Pensionistenheim darf nicht mehr besucht werden. Die Stadt ist in diesen Tagen der Kasernierung wirklich zu einem „Draußen“ geworden, das kaum noch frequentiert wird. Drinnen sitzen wir und harren der Ereignisse, immer virtuell angebunden an die Welt, die unmittelbar wie ein Fremdkörper erscheint. Die Wohnung soll nur noch aus triftigen Gründen verlassen werden. Weitgehend wird das befolgt.

Vor unserem Wohnhaus in Wien trifft man jetzt auf eine Warteschlange von Menschen, die gerade weil sie sehr locker stehen, das Trottoir blockieren. Sie warten drauf, zur Apotheke vorgelassen zu werden. Nachdem einem die anderen immer offensichtlicher ausweichen, weichen wir ihnen ebenfalls aus. Das Verhalten ist ansteckend geworden, es herrscht der Affekt. Vielleicht auch besser so. Man kann ja nicht wissen, was die da mit sich herumschleppen. Mysophobie nennt sich die krankhafte Angst vor Ansteckung. Zurzeit mag sie mehr nutzen als schaden. Doch kriegen wir sie wieder los? Beklemmung und Verdächtigung haben sich unserer Psyche bemächtigt. Je öfter gesagt wird, es gäbe keinen Grund zur Panik, desto mehr steigt die Unsicherheit.

Die Großstadt Wien rangiert in Österreichs regionalem Ranking bloß an fünfter Stelle. Ganz vorn bei den Infektionszahlen liegt das Bundesland Tirol, nicht nur prozentual, sondern auch nominell. Bis jetzt muss man sagen, dass die Seuche in der Alpenrepublik eher finanzkräftige Schichten und eine jüngere Population erwischt hat. Daher gibt es auch bisher nur wenig Tote. Die Hot Spots fanden sich jedenfalls in den mondänen Fremdenverkehrszentren, wo Ski- und Konferenztourismus Leben und Rhythmus bestimmen. Die Sonderwohlstandszonen Europas zwischen Mailand und München sind überproportional betroffen. Dito die reiche Schweiz. Freilich ist das eine Momentaufnahme.

Nordtirol sei nicht Südtirol

Die Tiroler Skigebiete haben einen wesentlichen Anteil an der Ausbreitung des Coronavirus geleistet, nicht nur hierzulande, sondern auch in Deutschland, den Niederlanden oder in Skandinavien. Noch bis vor Kurzem fürchtete man in Tirol hauptsächlich die Beeinträchtigung der Skisaison. „Nordtirol sei nicht mit Südtirol vergleichbar, betonen Touristiker“, stand da in der Tiroler Tageszeitung vom 11. März (!) zu lesen. Bald werde man zum Normalbetrieb zurückkehren. Man freute sich ausdrücklich über die Urlauber, die von Südtirol nach Nordtirol umbuchten. Der Seilbahn-Lobbyist und ÖVP-Nationalratsabgeordnete Franz Hörl hielt gleichentags fest: „Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass in Österreich Skigebiete geschlossen werden müssen.“ Das war zwei Tage bevor Ischgl abgeriegelt wurde. War die Innsbrucker Landesregierung zunächst unter den Abwieglern, so schaltete sie inzwischen auf ultrascharf und stellte am 18. März ganz Tirol unter Quarantäne.

Das Virus hat eine Lawine losgetreten. Regierungen reagieren hyperaktiv. Die Zeitungen sind voll, die Sendungen quellen über und in den sozialen Medien wird ein Schneebrett nach dem anderen losgetreten. Das alles erzeugt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann, nicht nur der Form nach, sondern auch betreffend der Inhalte, die da seriell abgespult werden. Allein die Menge oder besser: Unmenge der Meldungen und Daten überfordert. Sie überwältigen uns, halten uns fest und zwingen uns bestimmte Sichtweisen auf. Können unter solchen Prämissen überhaupt noch Erkenntnisse reifen? Das gesellschaftliche Gefüge erodiert. Arbeitsplätze und Einkommen werden in rasanter Geschwindigkeit wegrasiert, konservative Regierungen legen staatsinterventionistische Konjunkturpakete auf, gegebenenfalls wird mit Verstaatlichung gedroht. An die reinigenden Kräfte des Marktes appelliert niemand.

Nebenbei ergeben sich Effekte, die keine Umwelt- und Klimabewegung je durchsetzen hätte können: Die Industrie wird heruntergefahren, der Verkehr wird drastisch reduziert, der Alltag verliert an Tempo und Lärm. Die Luft wird besser, das Wasser klärt auf, von einer Hektik ist – ausgenommen jener, die in Zusammenhang mit Covid-19 steht – wenig zu spüren. Rettet das Virus gar mehr Leben, als es vernichtet? Die Geschwindigkeiten verlieren ihre Limits und vor allem ihre bisherige Synchronität. Manches wird langsamer, anderes dafür schneller: die Politik etwa, die gezwungen ist, Entscheidungen binnen Stunden zu treffen, für die sie sonst Jahre braucht. So gesehen leben wir in interessanten Zeiten. Wir sind Teil des größten globalen Experiments der Geschichte.

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