Das 20. Jahrhundert war das bisher blutigste in der Menschheitsgeschichte. Nicht auszuschließen, dass das 21. diesen Rekord bricht. Dafür ist man gerüstet, die Arsenale sind voll oder jederzeit auffüllbar. Wir leben in Zeiten einer Entsicherung der Weltlage. Das mag zynisch klingen, dürfte aber realistisch sein. Wachstum in allen Bereichen ist bekanntlich Prinzip der Kapitalakkumulation. Was heute im Nahen und Mittleren Osten abläuft, ist ein schwarzes Realszenario, bei dem sich Leid und Brutalität stets steigern.
Dass der Westen alles darf, wird dabei nicht weiter hinterfragt. Diskutiert wird eher, ob er soll, was er kann. Beim militärischen Eingreifen (mit und ohne UN-Mandat) interessiert in der Regel nur, ob es im Moment opportun ist. Dass diese Arroganz in den Metropolen kaum noch auffällt, spricht Bände. Allein die Selbstverständlichkeit, mit welcher der Okzident aufgrund menschenrechtlicher und ökonomischer Überlegenheit handelt - sprich: schikaniert, interveniert, bombardiert -, zeigt an, wie anmaßend dessen Politik ist. Das Irre, das etwa bei Ahmadinedschad sofort ins Auge sticht, fällt bei hiesigen Exponenten erst gar nicht auf. Denkt Chirac über eine Atombombe Richtung Teheran nach - kein Problem.
Der Fundamentalismus des weißen Mannes und seiner demokratischen Werte geht so und reicht inzwischen bis in die Linke: "Kritik am Kapitalismus ist gut und schön, aber wenn´s darauf ankommt, weiß man doch, was man an ihm hat", verkündete Günther Jacob nach dem 11. September 2001 in konkret (11/2001). Wer da nicht folgt, ist sowieso ein Schurke.
Nach Saddam Hussein ist nun Mahmud Ahmadinedschad als nationalsozialistischer Wiedergänger entlarvt. Den Sachverhalt stattdessen etwas komplexer zu denken, wird als Verharmlosung und Appeasement, Antiamerikanismus und Antisemitismus diffamiert. Da schnappen die Bezüge ein und die Tickets werden ausgestellt. Nicht reale Gefahren werden besprochen, sondern wildeste Bedrohungsszenarien, die oft nichts anderes sind als halluzinierte Analogien abseits aller wirklichen Kräfteverhältnisse. Konjunktive stehen hoch im Kurs und schlagen mühelos jeden Indikativ aus dem Feld. Was ist schon die Wirklichkeit gegen eine Projektion? Es könnte sein, dass - und daher!
Dabei ist Ahmadinedschad nicht einer, der aus einer konventionellen politischen Logik ausschert, sondern sie nur konsequent anwendet. Was übrigens gegen sie - aber nicht für ihn spricht. Ahmadinedschad reklamiert für sich, was für andere seit Jahrzehnten selbstverständlich ist. Atomkraft und Atombombe sind als Technologien immanenter Teil des kapitalistischen Systems. Da gibt es keinerlei kulturelle Berührungsängste. Wen wundert da, dass Zeiten vorbei sind, in denen die Atomtechnologie als unislamisch galt?
Was aufgeregte Schlagzeilen betrifft, ist in jeder Hinsicht Vorsicht geboten. Man denke an Saddams Massenvernichtungswaffen. Es gab sie nicht, aber vielleicht hätte es sie geben können. Man log aus voller Überzeugung.
Das propagandistische Muster erinnerte an den Kalten Krieg, als mittels der unseligen Totalitarismusformel nach 1945 das Dritte Reich und das "Reich des Bösen", die damalige Sowjetunion, in eins gesetzt wurden. Nazi-Vergleiche stehen wieder auf der Tagesordnung. Nicht nur Israels Politik wird auf unsägliche Art und Weise mit den Nazis verglichen, auch umgekehrt: jeder muslimische Irrläufer ein Hitler.
Es ist eine ungezügelte Begriffslosigkeit, die hemmungslos grassiert. Wenn man auch sonst nichts weiß - wer Freund und Feind ist, das weiß man. Die enthistorisierten und exportierten Nazis dienen als Alibi für diverse Wahnsinnigkeiten. Und gern wird argumentiert, dass - um größeren Schaden abzuwenden - diese Stadt bombardiert, dieses Land boykottiert, dieses System erpresst werden muss. Gründe wird man finden, notfalls erfinden. Dieses regressive Kalkül hat Konjunktur. Nur: was kann etwa eine prophylaktische Bekriegung des Irans anderes bewerkstelligen als einen Flächenbrand? Oder will man das? Wer das alles als vermeintlich kleineres Übel akzeptiert, wird Übles rechtfertigen und auch Ungeheuerliches decken. Im ausgerufenen Kampf der Kulturen ist jede grundsätzliche Parteinahme praktizierende Kapitulation.
Die Alternative heißt "Transposition" und meint, dass es bei den sich aufschaukelnden Gefahrenlagen notwendig ist, einen Standpunkt jenseits der Konfliktebenen zu beziehen. Das ist nicht zu verwechseln mit Äquidistanz oder Ignoranz und schließt konkrete Solidarisierung mit Opfern nicht aus. Aber diese Solidarität gilt nicht Völkern, Kollektiven oder Staaten, sondern betroffenen Individuen, kurzum den leidtragenden Menschen in diesen Konflikten. Transposition bezeichnet weder Partei noch Neutralität, sie versucht sich eben nicht im vorgegebenen Koordinatensystem zu verorten, sondern will darüber hinaus die Destruktivität der Konfrontationen selbst zum Gegenstand machen. Sie ist die ideelle Negation des Konflikts, die auf eine reelle Negation hinausläuft. Sie will ihre Fragen stellen und nicht die gestellten beantworten. Sie will nicht Flaggen hissen, sondern die Fahnen einrollen. Kurzum: Schwächt alle Fronten! Raus aus den Schützengräben!
Ob sich Transposition durchhalten lässt, ist freilich zu bezweifeln. Gelingt es nicht, dann steht die Linke vor einem historischen Desaster. Sie hätte sich dann als eigenständiger Faktor nicht nur marginalisiert, sondern unmöglich gemacht, weil sie der globalen Barbarisierung nichts Eigenständiges entgegensetzen kann. Hier, wo wir leben, in den Metropolen, heißt das: Kein Flankenschutz für die okzidentalen Mächte, keine Beihilfe für Kriegstreiberei - und die Debatten endlich von einer denunziatorischen auf eine argumentative Ebene zerren: "Das ist falsch, weil ..." sollte das "Du bist ein ..." ablösen.
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