Fluchtexperten

Sozialismus Alexander Osangs Familienroman liest sich wie eine Abrechnung
Ausgabe 41/2019

Ich wollte wissen, warum ich nicht glücklich werden kann, warum ich ständig wegrenne. Ich begann, ein Buch zu schreiben, das die dunklen Ströme auslotet, die unter meinem Leben fließen. Eine Reise zu den Dämonen meines Geschlechts“, schreibt der Schriftsteller und Journalist Alexander Osang in der eigenen Spiegel-Kolumne über seinen neuen 600 Seiten starken Roman. Selbst wenn man die Osang eigene Ironie abzieht, bleibt ein Anspruch von geradezu existenzieller Dramatik.

Osang folgt der Geschichte seiner Großmutter mütterlicherseits und setzt ein mit der Ermordung ihres Vaters durch einen von der Geheimpolizei aufgehetzten Mob während vorrevolutionärer Auseinandersetzungen im Jahre 1905: „Sina Krasnowa schob die letzten Scheite in den Ofen, als sie draußen in der Stadt ihrem Mann einen Holzpfahl in die Brust schlugen.“ Von da an begleitet er seine Großmutter Jelena, später Elena, das Mädchen mit den leuchtend roten Haaren, auch Füchslein genannt, durch die Sowjetunion.

Nach der Flucht vor ihrem Stiefvater, der sie regelmäßig vergewaltigte, heiratet sie den deutschen Unternehmer Robert Silber, der die junge Sowjetmacht bei der Entwicklung ihrer Textilindustrie unterstützt: „Der Deutsche hatte dunkle Haare, dunkle Augen und roch phantastisch. Er roch nach Süden, dachte Jelena. Der Mann schien einem Abenteuerroman entstiegen zu sein – ein Georgier eher oder ein Spanier.“

Endstation Sektorengrenze

Gemeinsam fliehen sie schließlich im Stile einer Netflix-Serie mit dem Flugzeug ins nationalsozialistische Deutschland: „Sie fragte sich, ob die Verfolgungsjagd Teil der Inszenierung gewesen war. Die Schüsse, die Pistole, die Eile. Sie hatte keine Toten gesehen, kein Blut und keine Verfolger, fühlte sich aber, als sei sie noch einmal davongekommen.“

Während ihr Mann nach dem Ende des „Dritten Reichs“ verschwindet, bleibt Elena in der DDR. Ihr Enkel Konstantin, ein ziemlich erfolgloser Filmemacher und auch ansonsten nicht allzu glücklicher Mann, versucht im Jahre 2017, das Leben der Großmutter zu erkunden und herauszufinden, was sich hinter den Legenden seiner Familie verbirgt, deren Mitglieder einander in herzlicher Abneigung verbunden sind. In Rückblenden verbindet Osang gekonnt die verschiedenen Zeitebenen.

Der Roman findet fast ausschließlich im Osten Europas statt und endet trotz einzelner Abstecher in den Westen, einmal sogar bis Ludwigshafen, in der Regel an der ehemaligen Berliner Sektorengrenze. Mit seiner Familiengeschichte entwirft Osang ein düsteres Panorama der vergangenen hundert Jahre. Düster, weil die Menschen seines Romans zeitlebens Getriebene bleiben, die letztlich nicht verstehen, was und wie ihnen geschieht oder gar warum. Erfolgreich sind allein ihre Fluchten.

Nicht einmal den Ausweg in die Liebe lässt Osang seinen Romanfiguren. Liebesnächte finden „im schweren Schatten der Staatstrauer“ um Lenin statt. Jelenas einzige wirkliche Liebe seit ihrer Jugend verrinnt im Nirgendwo. Ihr letztes Kind Anna, von ihrem Mann mit Gewalt gezeugt, „war ihre Hoffnung auf bessere Zeiten. Sie würde den Weg weitergehen, den Jelena angefangen hatte zu gehen. Sie würde sich weiter vom Unglück entfernen, von der Dunkelheit, und vielleicht, das hoffte Jelena von ganzem Herzen, war diese Tochter nicht auf die Hilfe von Männern angewiesen, um sich zu befreien. Anna war ein Licht am Horizont.“ Anna stirbt noch als kleines Kind.

Es gibt keine Bösen und keine Guten, erst recht keine Helden. Von den Aufbruchszeiten der Oktoberrevolution ist jedenfalls nichts zu spüren, den Experimenten oder der großartigen, erst später vom sozialistischen Realismus erstickten Kunst. Die politischen Instrukteure der KPdSU sprechen im Roman schon in den 1920er Jahren so, als seien sie gerade dem Parteilehrjahr der SED entsprungen. Selbst Alexander, Elenas Liebe, einer der Besseren, der vielleicht deshalb den Vornamen des Autors trägt, entschwindet in der großen sozialistischen Apparatur.

Aber auch die Bösen, die Vertreter des Staates, haben kein Gesicht, sie bleiben graue Männer. Die jungen Rotarmisten, die dem Vater in den Fuß schießen, weil er nicht geschickt genug zu ihrer Musik tanzt, wissen nicht, was sie tun. Sie rauchen. Die Macht bleibt wie bei Kafka eine „Behörde in ihrer unentwirrbaren Größe“.

Die Herausforderung dieses Romans liegt in seinem Menschenbild. Zwar verändern sich die Protagonisten, sie altern. Aber sie bleiben zeitlebens eingefroren in ihrer Opferrolle. Da erscheint die Demenz, der Großmutter und -vater schließlich verfallen, fast wie die Erfüllung ihres Lebens. Wo die traditionelle Spannung zwischen Guten und Bösen fehlt, gibt es auch keine Figur, deren Schicksal oder Kampf die Leser durch den Roman zieht, zum Schluss ist es nur noch die durchaus spannende Frage, ob der verschollene Vater nicht doch irgendwo im Westen wieder auftaucht; zuzutrauen wäre es ihm. Das alles ist gut geschrieben, und die nicht einfache Dramaturgie gelingt.

Osang verbindet mit diesem „grundsätzlichsten und privatesten Buch, was ich bisher überhaupt geschrieben habe“, auch einen gesellschaftlichen und politischen Anspruch und will die Probleme und Spannungen der Gegenwart aus der Geschichte des Ostens heraus erklären.

Dabei ist ein Roman kein Leitartikel. Ob so klar von ihm intendiert oder nicht, liest sich dieses Buch wie eine große literarische Abrechnung mit dem Sozialismus seit der Oktoberrevolution. Mit einer Ideologie, die beanspruchte, dass sich die Menschen, die Arbeiter, aus ihrem Elend nur selbst erlösen könnten, wie sie es mit der Internationale sangen, einem der Schlüssellieder des letzten Jahrhunderts; und schließlich doch nur Generationen von Entmündigten hervorbrachte: „,Dann woll’n wir mal, Frau Silber‘, sagte einer der beiden Männer. Lena nahm ihre Tasche und folgte den Männern in die Dunkelheit. Den Fluss hinunter, weiter.“

Info

Die Leben der Elena Silber Alexander Osang Fischer Verlag 2019, 597 S., 24 €

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