1913 Der Revolutionär August Bebel starb 1913, der Funktionär Friedrich Ebert trat an die SPD-Spitze, Willy Brandt wurde geboren. Welch ein Jahr der deutschen Sozialdemokratie
Als August Bebel am 13. August 1913 starb, war die Sozialdemokratie die stärkste parlamentarische Kraft im Reich. Sie zählte seit den Reichstagswahlen 1912 110 Abgeordnete in ihrer Fraktion. Bebel selbst saß 46 Jahre lang in Parlamenten. Er, der vom Bürgertum und Adel gefürchtete Revolutionär, war nahezu ein halbes Jahrhundert lang der Parlamentarier schlechthin in Deutschland. Doch wäre Bebel hellauf in Rage geraten, hätte man ihn mit dem Vorwurf des bloßen Parlamentarisierens und der Illusion über die Wirkkraft parlamentarischer Mitarbeit im bürgerlichen Staat traktiert. Gewiss, Bebel war in Tagesdingen durchaus pragmatisch, konnte in seinen Reichstagsreden viele Details zur sozialpolitischen Gesetzgebung beisteuern. Aber er blieb st
stets und demonstrativ bei seinem apodiktischen Nein zu all den Sozialreformen in der Monarchie. Das Parlament war ihm vorrangig Tribüne für die Agitation, Ort der Anklage, öffentliches Forum, um bürgerlich-reaktionäre Machenschaften zu enttarnen. Bebel suchte in der repräsentativen Körperschaft nicht nach Partnern oder Allianzen, um dank neuer Mehrheiten den wilhelminischen Obrigkeitsstaat unter Druck zu setzen.Mit Bebel wurde die Sozialdemokratie groß. Aber die Größe veränderte sie. Bebel spürte das, sah es im Herbst seines Lebens mit Sorge und mit Argwohn. Die Zahl der Hauptamtlichen in seiner Partei stieg; Karrieredenken ersetzte den einstigen Schwung und ethischen Idealismus. So jedenfalls kam es Bebel vor, dem auch nicht verborgen blieb, dass man begann, sich über ihn und seine Revolutionsschwärmereien zu mokieren. Überall, in Partei und Fraktion, breiteten sich nunmehr die Gewerkschafter, die Bebel nie mochte, mit ihrem reformistischen Klein-Klein aus. Zum Ende seines Lebens befielen den notorischen Optimisten pessimistische Anwandlungen, was den Frieden in Europa und die Zukunft der Partei anging.Ebert, der Typus des ApparatschiksDer Mann, der auf lange Zeit am stärksten mit dem neuen Praktizismus identifiziert wurde, war Friedrich Ebert – der Typus des Apparatschiks, auch des Bonzen, wie ihn Kurt Tucholsky maliziös karikierte. Gerecht waren die harten Verdikte von links gegen Ebert nicht. Sicher besaßen seine Reden nicht die suggestive Kraft der Auftritte Bebels. Zu intellektuellen Höhenflügen drängte es ihn nicht. Er inspirierte nicht durch Fantasie. Ebert war durch und durch praktisch veranlagt, mehr für eine starke Organisation als illuminierende Programmatik. Berechenbarkeit wertete er höher als Spontaneität oder politische Experimente.Doch Ebert musste anders sein als Bebel. Er durfte die Partei gar nicht mehr so führen, wie der es getan hatte. Ebert war 31 Jahre jünger als Bebel, gewissermaßen ein Mann der zweiten, vielleicht schon dritten Generation der deutschen Arbeiterbewegung. Ihm fehlte die Erfahrung langjähriger Illegalität, der rigiden Ausgrenzung während des Sozialisten-Gesetzes nach 1878. Die Demütigung durch Ausweisung und Zuchthaus, wie sie Bebel ertragen musste, war Ebert weitgehend erspart geblieben. Als er – 1871 als Sohn eines Schneiders in Heidelberg geboren – in der Sozialdemokratie aktiv wurde, begann sich die Parteiadministration erkennbar zu professionalisieren. Das wurde zur Welt des Friedrich Ebert, die ihn prägte – an deren Spitze er schließlich trat, um sich am Ende freilich auch darüber zu erheben. Kaum ein anderer in der Arbeiterbewegung hatte das Gesetz eines solchen Organisationskosmos besser begriffen als er. Er war ein Multifunktionär, nicht nur in der Partei, auch der Gewerkschaften, die er als Ressource seines weiteren Aufstiegs betrachtete – ein perfekter Maschinist der sozialdemokratischen Organisation. Ebert bewahrte, was ihm gewohnt war. Und er bekämpfte, was anders oder fremd daherkam, was für Unruhe sorgen, am Ende gar chaotische Verhältnisse mit sich bringen mochte. Bis 1914, in den 43 langen Friedensjahren seit 1871 mit erstaunlichen kapitalistischen Wachstumsschüben, die auch die soziale Lage der Arbeiter berührten, hatte das noch eher eine gemütlich-behäbige Seite.Aber im Krieg, während der Revolution und in den Bürgerkriegsmonaten der frühen Weimarer Republik mündete die konservative Essenz von Ordnung und Organisation in radikale Ausfälle gegen solche Kräfte, die weniger die Unberechenbarkeit heftigen Wandels fürchteten als die Beständigkeit des für die Kriegskatastrophe ursächlich verantwortlichen Alten. Als Ebert 1925 starb, war die sozialistische Arbeiterbewegung in Sozialdemokraten und Kommunisten gespalten, was der SPD machtpolitisch schadete, während die Deutschnationalen wieder mitregierten.Die Siegesgewissheit war gebrochen13 Tage bevor das Jahr 1913 zu Ende ging, gebar die Verkäuferin Martha Frahm in Lübeck ihren unehelichen Sohn Herbert. Willy Brandt, wie sich dieser seit den Jahren der Emigration nach 1933 nannte, war schon als Kind über die Mutter und den Großvater gleichsam naturwüchsig in das sozialdemokratische Umfeld hineingewachsen, was weder für Bebel noch Ebert zutraf, die beide erst zu bauen hatten, worin Brandt politisch ganz selbstverständlich aufwuchs. Als der zu den Roten Falken ging und 1930, gerade 16-jährig, der SPD beitrat, unterschied sich die Welt der Arbeiterbewegung grundlegend von der im Jahr 1913. Der internationalistische Optimismus – perdu. Die Siegesgewissheit des Sozialismus – gebrochen. Das Monopol auf die Opposition gegen die bürgerliche Gesellschaft – passé. Die Hoffnung auf den Volksstaat – enttäuscht.Dennoch: Im Grund hatte Willy Brandt als politische Figur Glück in unglücklichen Zeiten. Als 1913er lebte er mitten in den Spannungen des 20. Jahrhunderts, aber er wurde keines ihrer Opfer; ihm boten sich in den Momenten politischer Zäsuren vielmehr Optionen für neue Versuche, was schon mit seiner Emigration als 19-Jähriger nach Oslo 1933 begann. Unter allen Parteiführern in der Sozialdemokratie wies Brandt die größte innere Vielfalt auf. Er war kein Fatalist des Geschichtsverlaufes – wie Bebel. Ihm galten gegebene Ordnungen nie besonders viel – im Unterschied zu Ebert.Der rechtzeitige WandelBrandt verstand – besser als viele andere Politiker – in den späten sechziger Jahren, die polarisierende Vielfalt, die sich neu herausbildete. Er war schließlich selbst durch einen solchen Hexenkessel weltanschaulicher Scharmützel und tiefgreifender Wandlungen gegangen, konnte durch seine komplexen Lebenserfahrungen in den schwierigen Jahren nach 1968 das werden, was Helmut Schmidt eher verächtlich fand: ein Integrator. Brandt war natürlich kein 68er, aber er begriff, was die Akteure trieb. Und er sah in Polizeiaktionen kein geeignetes Rezept, dem entgegenzuwirken. Er war kein Friedrich Ebert, der um jede Ordnung fürchtete. Auch hielt Brandt Stabilität und klare Mehrheitsverhältnisse einer Regierungskoalition nicht für Primärwerte. Daher stand er der großen Koalition kühl gegenüber. Deshalb ging er 1969 lieber das Abenteuer eines sozialliberalen Bündnisses ein, gegen alle Warnungen von Wehner und Schmidt, die in überkommener Manier der klassischen Sozialdemokratie das Experiment fürchteten, Liberalismus und Individualismus – zumindest in der Politik – als störendes Ärgernis betrachteten.Brandt war da anders. Seine Witterung für Themen, die sich anzudeuten begannen, die Frauen- und Ökologie-Frage etwa, belebte die eigene Partei. Natürlich blieb vieles auch vage in seiner Rhetorik, die nie donnernd, sondern meist zögerlich, tastend war. Aber verglichen mit den Generationen der 1870er von ehedem und der 1970er heute in der SPD-Führungsriege hatte diese besondere Lebensgeschichte, die 1913 begann, der demokratischen Linken in Deutschland einiges gelehrt: den rechtzeitigen Wandel, die Kunst des Bündnisses und der erörternden Argumentation, die Fähigkeit zur Antizipation neuer gesellschaftlicher Strömungen, nicht zuletzt die humane Qualität des Zweifels.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.