Majestätsbeleidigung

Wissenschaft Wenn Christian Drosten spricht, lauscht die Republik. Sein Wissenschaftsverständnis ist trotzdem nicht frei von Problemen

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Die folgenden Zeilen sind eine Beleidigung. Sie sind eine Affront, in ihrer moralischen Verwerflichkeit beinahe gleichbedeutend mit dem guten alten Vaterlandsverrat. Sie sind eine Kritik an Christian Drosten, Chefvirologe der Berliner Charité und meistgeliebter Mensch dieses Landes.

Zugegeben, Letzteres ist wenig verwunderlich. Drosten rennt von Termin zu Termin, ist überall, versucht die Öffentlichkeit aufzuklären, berät ganz nebenbei noch die Politik und ist schon deshalb so unfassbar sympathisch, weil er trotz alledem noch mit ruhiger Stimme spricht und sich nicht zu schade ist, auch mal einen Fehler einzugestehen.

Christian Drosten ist ein herausragender Wissenschaftler seines Fachgebiets und versucht sein Wissen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Daran ist nichts auszusetzen, ganz im Gegenteil: Wissenschaft hat öffentlich zu sein, sie hat ihren Platz in der Gesellschaft stets mitzudenken und Elfenbeintürme zu meiden. Umso erstaunlicher ist das Wissenschaftsbild, welches der Berliner Virologe selbst darlegt.

Zwischen Öffentlichkeit und Politik

In seinem (generell empfehlenswerten) Podcast im NDR sagt er, es sei nicht die Wissenschaft, die Entscheidungen treffe, sondern die Politik. Wissenschaft wäre mit dem Treffen von Entscheidungen überfordert, denn sie generiere nur Daten und ordne diese ein. Das tue sie auch für eine breite, aufgeschlossene Bevölkerungsschicht. Er fügt hinzu:

„Die Wissenschaft hat kein demokratisches Mandat. Ein Wissenschaftler ist kein Politiker, der wurde nicht gewählt und der muss nicht zurücktreten. Und kein Wissenschaftler will überhaupt so Dinge sagen wie 'Diese politische Entscheidung, die war richtig oder diese politische Entscheidung, die war falsch. Oder diese politische Entscheidung, die muss jetzt als nächstes getroffen werden.' Sie hören das von keinem seriösen Wissenschaftler.”

Nun hat Drosten natürlich völlig recht damit, dass Wissenschaftler nicht einfach Entscheidungen treffen können und kein demokratisches Mandat dazu haben – und daran will auch niemand, der Demokratie grundsätzlich für eine feine Sache hält, etwas ändern. Woher aber die Schlussfolgerung kommt, Wissenschaftler wollten (und sollten) Entscheidungen nicht als richtig oder falsch bewerten, bleibt Christian Drostens Geheimnis. Dass Wissenschaft keine Entscheidungen treffen kann und soll, heißt nicht, dass Wissenschaftler nicht öffentlich radikal Stellung beziehen können und sollten. Es heißt nicht, dass sie grob fahrlässiges (Nicht-)Handeln der Politik nicht so benennen sollten.

Was sich in Drostens Ausführungen zeigt, ist ein Wissenschaftsverständnis, welches auf den ersten Blick „neutral” und zurückhaltend wirkt, unter dem Strich aber affirmativ und unterwürfig gegenüber den politischen Sturkturen ist, in denen es existiert – und mit diesem Verständnis steht Drosten natürlich keineswegs alleine dar.

Kritik oder Zustimmung

Nun ließen sich unzählige Einwände gegen ein solches Wissenschaftsverständnis formulieren (etwa der, dass das „demokratische Mandat” ein theoretisches Konstrukt ohne halbwegs zufriedenstellende Entsprechung in der Wirklichkeit ist), belassen wir es der Kürze halber aber bei nur einem:

Wenn Christian Drosten über die Wissenschaft sagt, sie generiere Daten und ordne diese ein, ließe sich das auch anders formulieren: Wissenschaft hat die gesellschafliche Aufgabe, Erkenntnisse über die Welt zu mehren. Nur hört es dabei nicht auf. Die wissenschaftlichen Erkenntnise tragen entscheidend dazu bei, Gesellschaft überhaupt in die Lage zu versetzen, sich selbst und die Welt zu verändern. Ein Wissenschaftsverständnis, dass sich stets auf formal-juristische Regeln zurückziehen kann, stellt das vor ein unlösbares Problem: Was passiert denn, wenn die Gesundheit, das Leben oder die Freiheit der Menschen ganz offensichtlich bedroht ist, aber die Inhaber der „demokratischen Mandate” nichts dagegen unternehmen – oder gar die Ursache für die Bedrohung sind? Wie lange will sich so eine Wissenschaft auf ihre „Neutralität” berufen? Darf so eine Wissenschaft öffentlich Trump radikal widersprechen, weil sein Gerede jeder wissenschaftlichen Erkenntnis widerspricht? Oder beginnt der Widerspruch erst bei Viktor Orbán, der in Ungarn im Zuge der Coronakrise gerade die letzten Reste des Parlamentarismus abgeschafft hat? Und was ist mit der Wissenschaft dort, wo überhaupt niemand ein „demokratisches Mandat” hat? Die traurige Realität ist: Es wird sich immer jemand finden lassen, dem sich die Legitimität über das Treffen von Entscheidungen zuschreiben lässt. So kann die „neutrale” Wissenschaft sich stets jeder gesellschaftlichen Verantwortung entziehen und bestenfalls als guter Stichwortgeber für die richtigen Leute dienen.

Damit entlarvt sich das Gerede von der „Neutralität” der Wissenschaft als das, was es ist: Ideologische Realitätsverweigerung. Wissenschaft hat nur zwei Möglichkeiten: Die kritiklose Akzeptanz der bestehenden Strukturen, Ordnungen und deren Vertreter – und damit die Akzeptanz von Macht, Unterdrückung, demokratischen Mängeln – oder die Parteinahme für diejenigen, in deren Verantwortung sie eigentlich steht und ohne die sie niemals entständen wäre: die nach Emanzipation und Aufklärung strebenden Subjekte. Was Adorno seinerzeit über die kritische Gesellschaftstheorie gesagt hat, gilt für jede kritische Wissenschaft bis heute: Sie bleibt an die Philosphie, an die philosphische Konzeption von Menschen als Individuen, als Subjekte, gebunden. Darin liegt kein Mangel, denn an die Philosophie bleibt auch diejenige Wissenschaft gebunden, die sich für neutral hält – bloß ist diese in aller Regel blind dafür. Was Max Horkheimer in den 1930er-Jahren geschrieben hat, hat nichts von seiner Aktualität verloren:

„Wenngleich die kritische Theorie nirgends willkürlich und zufällig verfährt, erscheint sie der herrschenden Urteilsweise [...] subjektiv und spekulativ, einseitig und nutzlos. Da sie den herrschenden Denkgewohnheiten, die zum Fortbestehen der Vergangenheit beitragen und die Geschäfte der überholten Ordnung besorgen, diesen Garanten einer parteiischen Welt zuwiderläuft, wirkt sie als parteiisch und ungerecht.”

Für die Gegenwart in der Coronakrise heißt das: Wissenschaftler müssen ihre gesellschaftliche Verantwortung strikt wahrnehmen. Sie sind uns verpflichtet, nicht der Politik.

Anmerkung 1: Nein, „wir” sind nicht „die Politik”.

Anmerkung 2: Nein, Technokratie ist keine Lösung und wird hier nirgens gefordert.

Anmerkung 3: Dieser Text wird (sollte ihn irgendwer lesen) Widerspruch auslösen, der in Teilen auf dem Argument aufbauen wird, dass der Autor dieser Zeilen nur irgendein unbedeutender Wurm sei, während Christian Drosten einer der größten Menschen des Landes sei. Da kein einziges inhaltliches Argument in dieser Erwiderung steckt, lässt diese den erwähnten Wurm kalt.

Anmerkung 4: Bis heute zum Lesen dringend empfohlen: Max Horkheimer – Traditionelle und kritische Theorie.

Anmerkung 5: Drosten sagt in seinem Podcast, seine eigene mediale Rezeption (und die Art, in der Wissenschaft dargestellt wird) werde ihm zunehmend unangenehm. Die mediengeführte öffentliche Debatte sei ein Problem. Dazu ist festzuhalten a) Ja, das ist richtig, aber kein Stück verwunderlich. (Private) Medien sind nunmal Wirtschaftsunternehmen und funktionieren daher nunmal nach anderen Logiken als wissenschaftliche Einrichtungen (die aber auch zunehmend unter privaten Einfluss geraten und damit tendenziell abhängig von Vermarktbarkeit werden). b) Kein moralischer Appell an die „Verantwortung der Medien” – auch nicht der Christian Drostens – wird daran etwas ändern. Das Geschäftsprinzip der größten deutschen Zeitung etwa basiert schlichtweg auf einer anti-wissenschaftlichen Haltung. c) Es ist kein Zufall, dass Drostens Podcast öffentlich-rechtlich produziert wird. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben den Luxus, zumindest in Teilen eben nicht nach der Marktlogik funktionieren zu müssen (und des trotzdem viel zu häufig tun). d) Das Erscheinen dieser Zeilen auf der Internetseite einer privaten Wochenzeitung widerspricht dem Gesagten nur auf dem ersten Blick, aber diesen Gedanken überlasse ich Ihnen.

Anmerkung 6: Ich finde Christian Drosten wirklich außerordentlich sympathisch und bin ihm für seine Arbeit mehr als dankbar.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Franz Hausmann

Sozialwissenschaftler, Autor, Hobbygärtner. Buch "Koks am Kiosk? Eine Kritik der deutschen Drogenpolitik" gibts beim Schmetterling Verlag.

Franz Hausmann

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