Moralismus verschrotten

Klimapolitik Wenn wir die Klimakatastrophe verhindern wollen, müssen wir den Moralismus bekämpfen – auch den eigenen. Ein Debattenbeitrag aus der Klimabewegung

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Muss man sich beim Babybel jetzt schlecht fühlen?
Muss man sich beim Babybel jetzt schlecht fühlen?

Foto: Sean Gallup/AFP/Getty Images

Vor ein paar Tagen saß ich im größten Hörsaal der Uni Jena. Ich war natürlich nicht alleine. Zu all den Soziologinnen und Soziologen um mich herum gesellte sich noch mein Mittagessen. Gebratener Reis mit Gemüse, eingepackt in eine billige Kunststoffbox, dazu Plastikbesteck. Eine dünne weiße Plastiktüte war auch noch drumherum. Ich hatte keine (okay, kaum) Angst, dass mich irgendeiner der Anwesenden aufgrund der umwelt- und klimaschädlichen Verpackung persönlich angreift und moralisch geißelt.

Jetzt könnte man annehmen, dass Umwelt und Klima innerhalb der Soziologie keine Rolle spielen und die Umweltbelastung meines mittelmäßigen Mittagssnacks einfach allen Anwesenden egal war. Das wäre falsch. Die Szene fand auf einer Konferenz statt. Es ging vorallem darum, wie wir den ökologisch-sozialen Wandel, den diese Gesellschaft braucht, wenn sie die Klimakatastrophe aufhalten will, gestalten können. Von der Notwendigkeit grundlegender Veränderungen waren nahezu alle Anwesenden restlos überzeugt.

Ich habe mir beim Essen eine einfache Frage gestellt: Würde ich dieses Plastik-Fast-Food-Ding vor mir auch essen, wenn ich Angst vor öffentlicher moralischer Verurteilung hätte? Die Antwort ist: Ja. Aber ich würde es wahrscheinlich heimlich tun. Wem wäre damit geholfen?

Die Privatisierung des Leids

Die kleine Szene aus meinem Alltag mag banal erscheinen, aber in ihr steckt mehr politischer Inhalt als in den meisten Sonntagsreden der Politik. Sie zeigt wie unzureichend jede moralische Argumentation und Verurteilung in der Klimafrage ist. Der Moralismus löst kein einziges Problem, schafft aber unzählige neue.

Er verschreckt Menschen außerhalb der Bewegung, obwohl wir genau diese Menschen an unserer Seite bräuchten. Wer will sich schon die eigene moralische Fehlbarkeit ständig vorhalten lassen? Du hast ein Auto? Deine Kleidung ist nicht Fairtrade? Du fliegst in den Urlaub? Wer will sich schon den Vorwurf anhören, ein schlechter Mensch zu sein – vorallem vor dem Hintergrund, dass sich die Menschen selbst in aller Regal eben nicht so wahrnehmen?1

Die moralistische Argumentation verschreckt nicht nur Menschen außerhalb der Bewegung, sie zerstört auch die – überwiegend jungen – Leute in der Klimabewegung. Sie zerstört uns. Sie macht aus dem Leben einen permanenten Selbstvorwurf. Sie lädt das Leid der Welt auf den Schultern des Individuums ab. Sie sagt uns: Du bist eine Belastung für die Welt. Ändere das. Was sie nicht sagt: Als Einzelner kannst du das nicht ändern.

Der Moralismus ist die Privatisierung der Politik. Er ist das Ergebnis jahrzehntelanger Entpolitisierung und Vereinzelung – und er ist für das bestehende politische und ökonomische System völlig ungefährlich. Wer moralistisch argumentiert, ist vielleicht nervig, aber nie eine echte Gefahr. Denn der Moralismus verhindert die Erkenntnis, dass das Problem nicht bei den Individuen liegt, sondern in den Verhältnissen und Beziehungen, in denen sie zueinander stehen. An die Stelle der privatisierten Politik muss die Kritik der Zustände treten, die moralisch bzw. ethisch gutes Verhalten unmöglich machen.

Aufruf zur Politisierung

Diese Erkenntnis ist keineswegs neu, sie ist im Gegenteil innerhalb der Klimabewegung durchaus weit verbreitet. Als eines der bekanntesten Gesichter der deutschen Fridays For Future-Bewegung, Luisa Neubauer, für ihre vergangenen Fernreisen (und letztendlich ihre moralische Fehlbarkeit) an den Pranger gestellt und mit einem Shitstorm überzogen wurde, antwortete Neubauer völlig richtig: Die Kritik an persönlichem Verhalten lenke nur von größeren Problemen auf strukturell-politischer Ebene ab. Was nutze ökologisches Verhalten im Privaten, wenn Kohlekraftwerke weiterliefen und der Himmel voller Flugzeuge sei?

Das heißt selbstverständlich nicht – wie auch Luisa Neubauer betont – dass man privat nichts tun müsse. Aber eine private Vorbildfunktion kann niemals ein gemeinsames politisches Handeln ersetzen. Viel zu oft transportieren Teile der Klimabewegung aber noch das Bild, als wäre es so. Das ist kein Wunder. Die Klimabewegung ist eine große, heterogene gesellschaftliche Bewegung und als solche trägt sie die großen gesellschaftlichen Probleme in sich – auch den Moralismus.

Es wäre dringend nötig, dieses Problem innerhalb der Bewegung offen anzugehen. Verschwenden wir die Zeit und Aufmerksamkeit, die wir bekommen, nicht mit moralischen Rechtfertigungen. Greifen wir die Vorstellung, die Klimakatastrophe sei das Problem moralischer Verfehlungen Einzelner, noch vehementer an.

Wenn wir mit dem Vorwurf konfrontiert werden, keine weiße Weste zu haben, kann unsere Antwort nicht sein: „Alle versuchen sie so gut es geht sauber zu halten.”

Unsere Antwort kann nur lauten: „Ja, wir haben keine weiße Weste. Weil man uns systematisch das Waschen und Putzen verbietet. Weil an allem, mit dem wir in unserem Alltag umgehen, Blut, Schweiß und Dreck hängt. Weil wir noch so gut aufpassen können und trotzdem ständig an den dreckigen Ecken und Kanten der Kleiderregale, der Autos und der zu engen Gassen hängen bleiben. Wir wollen das nicht. Wir wollen nicht mehr dreckig sein. Aber dafür müssen wir waschen und putzen dürfen.”

Anmerkung 1: Der Autor ist u.a. bei Fridays For Future bzw. Students For Future aktiv.
Anmerkung 2: Der Autor ist moralisch fehlbar.
Anmerkung 3: Natürlich ist die Debatte um den Moralismus nicht die einzige, die innerhalb der Bewegung (und darüber hinaus) geführt werden muss.

1 Der bekannte Postwachstumsökonom Niko Paech etwa sagt: „Wir brauchen also einen Aufstand der Handelnden und der sich dem Steigerungswahn Verweigernden. [...] Deswegen brauchen wir ein drittes Regulativ, und da sind die „Fridays for Future“ gar nicht mal so schlecht. Das Problem ist nur, dass eine nächste Entwicklungsstufe nötig ist, sodass Menschen auch wieder untereinander anfangen darüber zu diskutieren und sich gegenseitig auch, wenn es sein muss, zu kritisieren, auch mal einen Streit beginnen dergestalt, dass ich meinem Nachbarn sage, hör mal, warum hast du eine Kreuzfahrt gebucht, wer gibt dir das Recht, einen SUV zu fahren, warum musst du eine Flugreise in den Skiurlaub auch noch tätigen. Das muss in Familien, das muss an Schulen, das muss in allen öffentlichen Institutionen, allen Gesprächen, allen Wirtshäusern Thema sein.”
Diese Position ist einflussreich, politisch aber Selbstmord. Und sie ist – wie im Folgenden dargestellt – eher Teil des Problems als Teil der Lösung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Franz Hausmann

Sozialwissenschaftler, Autor, Hobbygärtner. Buch "Koks am Kiosk? Eine Kritik der deutschen Drogenpolitik" gibts beim Schmetterling Verlag.

Franz Hausmann

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