Ihre Analyse war treffend. Agnieszka, eine Krankenschwester, die im Sommer aus Lodz nach Warschau gekommen war und wochenlang mit tausenden von Krankenschwestern und Hebammen vor dem Arbeitsministerium gegen drohende Entlassungen streikte, brachte das Problem der Frauen auf den Punkt: "Uns fürchten sie halt nicht. Vor den Bauern, vor den Bergleuten oder vor den Arbeitern aus den Waffenfabriken haben sie Angst, die machen auch Krawall, schlagen zu, aber wir, wir können nicht so einfach von der Arbeit weggehen, weil wir dort mit Menschen zu tun haben, mit kranken Menschen, mit alten Leuten oder neugeborenen Kindern. Die Regierung spekuliert mit unserem guten Herzen. Aber wir selbst werden wie der letzte Dreck behandelt. Und wir schlagen auch nicht zu, wir sind schließlich nur Frauen."
Die sich über Monate hinziehende Kampagne der Krankenschwestern und Hebammen war einer der bestorganisierten Arbeitskämpfe Polens in den vergangenen Jahren: Die Frauen besetzten Krankenhäuser, Krankenkassen und das Arbeits- und Sozialministerium, sie machten Protestkundgebungen in verschiedenen Städten. Die Frauen, alle berufs tätig, nahmen enorme Anstrengungen auf sich, um zu ihrem Recht zu kommen. Sie reisten aus dem ganzen Land an, um für ein paar Tage die Streikposten im Straßencamp vor dem Arbeitsministerium zu verstärken. Dann fuhren sie zurück, zu den nächsten Tag- oder Nachtschichten. Viele nahmen sich Urlaub, um die Demonstration zu unterstützen. Das war für alle außerhalb Warschaus die einzige Möglichkeit, denn wer "unerlaubt" der Arbeit fernblieb, hatte seinen Arbeitsplatz verloren. Aber bisher war das Engagement der Frauen ergebnislos. Nichts deutet darauf hin, dass sich für sie die Arbeitsmöglichkeiten im eigenen Land verbessern.
Anfang des Jahres trat die Gesundheitsreform in Kraft, sie geht einher mit einer Privatisierung im Gesundheitsbereich, was auf eine Zweiklassenmedizin hinausläuft. Für das Personal sehr relevant ist das Faktum, dass die verwaltungsrechtliche Zuständigkeit fürs Budget und die Bezahlung der Angestellten vom Ministerium auf die Direktoren der einzelnen Krankenhäuser überging. Die Krankenhäuser, deren Apparate vielfach veraltet und deren Medikamentenschränke so leer sind, dass die Krankenschwestern um jede Tablette kämpfen müssen, haben nun die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, was oder wen sie zuerst bezahlen. Sie sparen auf Kosten des Personals, insbesondere des Pflegepersonals. In doppelter Hinsicht: Sie entlassen, und sie verzögern die Auszahlung der im Januar vereinbarten Lohnerhöhung von zwei Prozent plus Inflationsausgleich, auf die das Pflegepersonal, fast alles Frauen, dringend angewiesen ist.
Eine Krankenschwester verdient 500 bis 700 Zloty monatlich (265 bis 350 DM), aber schon für ein Zimmer zahlt man in Warschau 350 bis 400 Zloty. Die meisten Krankenschwestern und Hebammen sind 30 bis 50 Jahre alt, sie müssen für Kinder sorgen und wissen nicht, woher sie das Geld dazu nehmen sollen.
Im Sommer begannen die Krankenhausdirektoren schließlich peu à peu damit, die im Januar ausgehandelten Beträge auszuzahlen. Die Krankenschwestern erkennen in dieser Vorgehensweise männliche Arroganz, die ihre Proteste nicht ernstnimmt und hofft, die Frauen im Laufe der Zeit mürbe zu machen.
Die Proteste, die sich im Juli aufgelöst hatten, wurden im September wieder aufgenommen, da sich viele Krankenhausdirektoren nicht an die getroffenen Abmachungen halten. In Lodz, Opole und anderen Städten gibt es wieder Hungerstreiks und andere Protestaktionen. Inzwischen hat die Allgemeinpolnische Krankenschwestern- und Hebammengewerkschaft die Gesundheitsministerin zu erneuten Verhandlungen aufgefordert. Bozena Banachowicz, die Gewerkschaftsvorsitzende schrieb im November im kalendarium wydarzen, einer feministischen Monatszeitschrift aus Warschau: "Das Ministerium hält sich nicht an die Absprachen, die es mit uns im Juli getroffen hat. Nach wie vor sind keine Festlegungen über die Zahl der Arbeitsplätze für die Krankenhäuser getroffen worden. Die meisten von uns haben bis heute keine Lohn erhöhung erhalten."
Die Krankenschwestern und Hebammen sind frustriert, enttäuscht, verzweifelt und auch wütend, denn sie treffen zwar während ihrer Demonstrationen auf sehr viel Solidarität aus der Bevölkerung - Passanten bringen ihnen Essen, Getränke, manchmal auch Geldspenden -, aber die alten Mitstreiter aus der Zeit vor 1989 interessieren sich nun nicht mehr für die Frauen, die mit Putzfrauen und Bauern ganz unten auf der Lohnskala stehen. Vor der Wende kannte man sich. Vor der Wende unterstützten auch die Macher der größten polnischen Tageszeitung, Gazeta Wyborcza, die früher ein Oppositionsblatt war, die Interessen der unterbezahlten oder eher: ausgebeuteten Krankenschwestern. Heute dagegen folgen dieselben Journalisten und Verleger ihrem selbstformulierten Anspruch, aus der Mitte der Gesellschaft zu berichten. Und in der Mitte der Gesellschaft befinden sich - rein ökonomisch gesehen - die Krankenschwestern freilich nicht.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.