Verblasst sind die Erinnerungen an das Ereignis. Zwischen dem 19. und dem 21. August 1991 versuchten ranghohe Mitglieder der sowjetischen Regierung, von Michail Gorbatschow eingeleitete Reformen mit einem Putsch zu beenden. Nicht zu Unrecht fürchteten sie um die Existenz der Sowjetunion. Der sogenannte Augustputsch trug dann aber dazu bei, den Untergang des sowjetischen Staats zu beschleunigen, anstatt ihn aufzuhalten. In Moskau gingen zehntausende Menschen auf die Straßen, um einen Erfolg der Putschisten zu verhindern. Die Bilder von Boris Jelzin, der sich auf einem Panzer stehend hinter die Demonstranten stellt, sind weltbekannt.
Der Filmemacher Sergei Loznitsa blickt in The Event (Sobytie) nicht auf die Vorgänge in der Hauptstadt, sondern zeigt sie aus der Perspektive Leningrads, das kurze Zeit später in St. Petersburg rückbenannt wurde. Der Film ist eine Collage von schwarzweißen Originalaufnahmen, die Kameraleute des Petersburger Dokumentarfilmstudios zwischen dem 19. und dem 24. August 1991 gedreht hatten. Was sich in Leningrad in diesen Tagen abspielte, ist in Loznitsas Lesart schlicht ein „Ereignis“, das er weitgehend unkommentiert für sich sprechen lässt. Allein Musik aus Tschaikowskys Schwanensee wird während der Schwarzblenden eingespielt, die den Film unterteilen. Wohl ein ironischer Verweis darauf, dass das sowjetische Staatsfernsehen seinen Zuschauern in diesen Tagen am liebsten Ballett zeigte.
Zu sehen und zu hören sind in The Event Menschen, die sich an den zentralen Orten Leningrads wie dem städtischen Sowjet versammeln oder den Newski Prospekt entlanglaufen. Unklarheit herrscht darüber, was sich in der Hauptstadt eigentlich ereignet. Passiert wirklich etwas? Ist Gorbatschow tot? Lebt Jelzin noch? Fahren die Panzer der Putschisten auf Leningrad zu? Es beginnt eine spontane Selbstorganisation der Menge, Plakate werden beschrieben, Barrikaden gebaut und Reden gehalten, in denen unter dem Jubel der Menge die Stärke des russischen Volks, aber auch das Recht aller Völker der Sowjetunion auf Freiheit und Selbstbestimmung beschworen wird. Man wird sich den Putschisten auch in Leningrad in den Weg stellen, so viel ist klar.
In Anbetracht der Bilder ist es unmöglich, The Event zu sehen, ohne den ukrainischen Maidan zu assoziieren, über den Sergei Loznitsa zuletzt in einem eigenen Dokumentarfilm erzählt hatte (Freitag 36/2015). Wie in Kiew kann man junge Menschen in Leningrad beobachten, die sich darüber verständigen, wie man sich im Falle des physischen Kampfs mit dem Gegner am besten gegen den beißenden Rauch schützen kann (mit feuchtem Tuch über dem Mund). Wie in Kiew scheint die Zahl der Menschen auf den Straßen ständig zu wachsen, ehe die Kamera die Menge einfängt, die den riesigen Palastplatz vor der Eremitage anscheinend mühelos auszufüllen vermag. Wie in Kiew zu Beginn des Winters 2013 scheint es aber auch in Leningrad im Sommer 1991 Elemente eines Volksfests gegeben zu haben.Die Menschen bauen nicht nur Barrikaden und schwingen politische Reden, es wird auch gesungen.
Zivilisierter Zusammenbruch
Im Unterschied zum Maidan bleibt die gewaltsame Konfrontation in Leningrad aus. Schon nach zwei Tagen ist der Putschversuch in Moskau gescheitert, ruhig und gesittet schreiten Menschen gegen Ende des Films durch das Smolny-Institut, den Sitz der KP in Leningrad, um Akten vor der Vernichtung zu sichern. Das sich abzeichnende Ende der Sowjetunion erscheint in diesem kleinen Ausschnitt als ein friedlicher Moment, ein überaus zivilisierter, allmählicher Zusammenbruch des gigantischen Kontinentalreichs.
Aus dem Rückblick des Jahrs 2016 stimmt Loznitsas archivarische Arbeit traurig. Die Kampfbegriffe „Faschismus“ und „faschistische Junta“, die die Menschen in Leningrad 1991 bemühten, um die Gegner der Freiheit zu brandmarken, sind genau jene Begriffe, die der Kreml von Beginn an instrumentalisierte, um den zivilgesellschaftlichen Aufbruch in der Ukraine zu diskreditieren und die russische sowie Teile der ukrainischen Gesellschaft für den Krieg im Donbass zu mobilisieren.
Der Leningrader Bürgermeister Anatoli Sobtschak ist die prominente Figur in The Event. Der im Jahr 2000 verstorbene Politiker inszeniert sich vor den Menschenmengen als Fürsprecher von Reformen. Unter seiner Ägide begann der Aufstieg Wladimir Putins, der in der Entourage Sobtschaks im Film nur kurz zu sehen ist. In den 90er Jahren war Putin in St. Petersburg für die Auslandsexporte russischer Firmen zuständig und eine Schlüsselfigur für den Ausverkauf des Landes in einem Netzwerk ehemaliger KGB-Agenten, zukünftiger Oligarchen und organisierter Kriminalität. Mit dieser Erfahrung (wenn auch nicht mit Putin selbst) verbinden inzwischen viele in Russland die Ideen von Freiheit und Demokratie. Im kurzen Leningrader Sommer von 1991 hatten sie eine völlig andere Bedeutung.
Info
The Event (Sobytie) Sergei Loznitsa Belgien/Niederlande 2015, 74 Minuten
Kommentare 2
Wer immer noch abstreitet, dass in der Ukraine faschistische Banden und Parteien den Maidan mitbestimmt haben - und sogar in Militär und Regierung mitwirken: der soll aus Gründen der wissenschaftlichen Unredlichkeit nicht mehr als Osteuropahistorikerin einer Universität auftreten.
Bei dem Putschversuch 1991 muss einem einfach der "Der 18. Brumaire..." von Karl Marx einfallen, der in dieser Schrift ebenfalls auf eine Putsch (oder Staatsstreich) eingeht: den von Charles Louis Napoléon Bonaparte, der sich 1852 in Frankreich vom Staatspräsidenten, der er bis dahin war, zum Kaiser der Franzosen (Napoléon III.) aufschwang. Marx sah darin die Wiederaufführung eines Dramas, das 1799 mit Napoléon I. in der Hauptrolle als Tragödie stattgefunden hatte, als "Farce".
Der Putsch war eine Farce, ernst gemeint, klar, aber ungewollt komisch, weil in völliger Verkennung der wirklichen Lage ausgeführt. (Gorbatschows Agieren könnte man auch als komische Episode interpretieren, denn auch er hatte wohl noch nicht erkannt, dass er zum Papiertiger geworden war.)
Was dann kam, könnte, wenn man die Metaphorik weiter treiben wollte, als Umkehrung der Reihenfolge von Trägödie und Farce gesehen werden. Jelzin war eine Farce, Putin ist nun die Trgödie. Aber in Wirklichkeit sind sie zwei Seiten einer Medaille. Was in den Neunzigern passierte, ist sozusagen das Agieren des janusköpfigen Zwitterwesens Jelz-/Put-in. Während Jelzin seinen schwankenden Körper als "Westen/Freiheit/Demokratie"-Symbol hinhielt, hat Putin den Übergang vom Restsozialismus zum Oligarchenkapitalismus (mit-)organisiert. Und dann kam der Tag, wo auch Jelzin nur noch ein überflüssiger Papiertiger war.
Der Film ist sicher interessant. Er enthält sich anscheinend, anders als die Rezensentin, einer vordergründigen Interpretation der Ereignisse.
Der Maidan-Vergleich lässt mich an eine andere bekannte Formulierung aus dem Brumaire-Text denken, die von den heroischen "Leidenschaften und Illusionen", die die Motivation von Akteuren ausmachen oder auch vor sich selbst bemänteln. Die Massen, die da ursprünglich zusammenströmten, wollten Demokratie und (West-)weltoffenheit, sie bekamen Poroschenko als Kasperkopp der Oligarchen und den ukrainischen Nationalismus.
Die Massen von Leningrad 1991 stehen als Petersburger heute mehrheitlich hinter Putin, die Massen der "friedlichen Revolution" 1989 teilten sich später in Wendegewinner und -verlierer. Und die aktuelle Massenbewegung hat auch ihre (allerdings reaktionären) "heroischen" Illusionen - Nation, Deutschland, Religion, Kultur. Auch diese Massen sind nur Schwungmasse, wie die Leningrader Schwungmasse für Jelzin und Putin waren. Für die Machtambitionen der AfD ist der PEGIDA-Volkswille nur Tünche. Für den Erhalt der angestrebten Macht braucht sie ganz anderen "Schwung" - und den wird sie sich durch eine neoliberale-globalistische Politik verdienen, die dann sicher immer noch ein wenig putinesk deutsch-hegemonial getüncht sein wird.