„Menschenrechte statt Nacktfotos“

Protest Am Brandenburger Tor sind seit sechs Tagen Teilnehmer des Asyl-Protestes im Hungerstreik. Doch erst eine "Nackt-Aktion" der Piraten bringt größere mediale Aufmerksamkeit

Vor dem Brandenburger Tor sitzen Menschen auf dem Boden, zusammengedrängt, leise miteinander redend. Um sie herum spannen Unterstützer Transparente auf: für Bleiberecht, gegen Abschiebung. Bis auf ein paar Pappstücke und die eigenen Mäntel müssen die Sitzenden mit dem nackten Asphalt vorlieb nehmen. Auch die Nacht werden sie so verbringen. Schlafsäcke und Rettungsdecken wurden am Wochenende von der Polizei konfisziert. Nicht einmal das Unterlegen von Kleidung ist ihnen erlaubt. Zur Kälte kommt nun noch der Nahrungsentzug. Um ihre Forderungen nach einem menschenwürdigen Leben zu unterstreichen, befinden sich seit dem 24. Oktober etwa zwanzig der Asylwerber und Flüchtlinge, die an den Protestcamps in Berlin, am Oranienplatz und am Brandenburger Tor teilnehmen, im Hungerstreik.

Die Gruppe von Medienvertretern, die sich heute eingefunden hat, ist jedoch aus einem anderen Anlass hier. Über Twitter war die Nachricht verbreitet worden, vier Frauen aus der Piratenpartei - Laura Dornheim, Julia Schramm, Anne Helm und Anke Domscheit-Berg, sowie, als einziger Mann, Felix Just - würden sich heute Mittag vor Kameras ausziehen.

Was braucht es, um Aufmerksamkeit zu erregen? Campieren bei Minustemperaturen, einen unbegrenzten Hungerstreik? Oder nackte Frauenkörper?

Der Zynismus dieser Frage mag den Piratinnen vor Augen gestanden haben, die gestern angekündigt hatten, sich aus Solidarität mit den protestierenden Flüchtlingen zu entblößen. Um es dann doch nicht zu tun.

Unter dem Hashtag #titsforhumanrights war bis zuletzt bestätigt worden, man wolle, in Anlehnung an die Femen-Bewegung in der Ukraine, die Aufregung nutzen, die nackte (weibliche) Haut nach sich zieht. Intern war der Plan umstritten. „Brüste zeigen bitte nur für feministische Themen“, hieß es auf Twitter. Ein anderer Post ging mit der Piratenpartei ins Gericht: „Geschlechtsspezifische Diskrimierung anprangern und sekundäre Geschlechtsmerkmale einsetzen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Seems legit.“

Das mediale Echo fiel reichlich aus. Längst nicht nur die Bild-Zeitung erschien zum Termin am Platz vor dem Brandenburger Tor. Statt die Oberkörper frei zu machen, zeigten die fünf Piraten dann beschriebene T-Shirts. „Menschenrechte statt Titten“, war darauf zu lesen.

Hungernde nichts für die Titelseite

Dornheim erzählt, wie die Idee zustande kam. Sie habe „herumgefragt“, ob nicht doch jemand über den Hungerstreik mitten in Berlin berichten wolle. Ein Journalist der Bild-Zeitung schrieb, er würde kommen, wenn auch Johannes Ponader, der Geschäftsführer der Piratenpartei, anwesend sei. Dornheim antwortete, davon wüsste sie nichts. Aber wenn es helfe, “stell ich mich da oben ohne hin!” Sie sei über die „Köpfe-Geilheit“ wütend gewesen, erklärt sie im Nachhinein. Als der Journalist ihr anbot, mit Fotograf zu erscheinen, falls sie sich wirklich ausziehe, habe sie „so getan“, als würde sie darauf eingehen. Dabei sei „von Anfang an“ klar gewesen, dass man dies in diesem Fall für keine passende Aktionsform hielte. Durch die falsche Fährte habe man den Medien, die bisher wenig bis gar nicht über den Protest berichtet hatten, „einen Spiegel vorhalten“ wollen. So sei die Begründung des Bild-Journalisten, warum er nur zu einer Nackt-Aktion erscheinen würde, gewesen, Bilder von hungernden Menschen seien eben „nichts für die Titelseite“.

Ob es Ärger gab, ob die Provokation funktioniert hat, davon ist auf dem Platz nichts zu merken. Die Protestierenden sehen erschöpft aus. Heiße Getränke werden verteilt, Essen, natürlich, nicht. Mansureh, eine Frau mittleren Alters, eingepackt in Daunenjacke und Handschuhe, ist mit ihren beiden Töchtern da. Aus dem Iran seien sie nach Kassel gezogen, und hätten sich nun, weil die Situation in Deutschland für sie so aussichtslos war, dem Protestmarsch nach Berlin angeschlossen. Sie finde es gut, dass heute viele Berichterstatter hier waren. Dass sie wegen der Aktion gekommen sind und nicht „wegen uns“, stimme sie aber traurig.

Behruz aus Indien sieht das positiver. „Hier sind so viele verschiedene Menschen versammelt,“ sagt er, „Wir sind um jede Unterstützung froh. Solidarität braucht keine Erlaubnis.“ Wie das genau war, ob nackt oder nicht nackt, sei ihm im Grunde egal. Houmer, ein junger Mann mit Fellmütze, widerspricht. Das Camp habe die Mitglieder der Piraten gebeten, die Aktion nicht wie angekündigt durchzuführen. Die Aufmerksamkeit solle auf ihren Forderungen liegen. Und nicht auf einem inszenierten Skandal auf der parteipolitischen Bühne. Dass ihr Protest aber noch viel mehr gehört werden muss, darin sind sich alle drei einig. „Unsere Stimme muss sobald wie möglich ins Parlament,“ wünscht sich Mansureh. „Bis dahin halten wir aus.“ Wie alle hier gefährdet sie, um ihre Ziele publik zu machen, ihre persönliche Unversehrtheit. Die Protestierenden leiden unter Hunger, Kälte und der Furcht vor Übergriffen. Bei ihren Forderungen geht es ihnen buchstäblich um das „nackte Überleben“. Auch sie setzen ihre Körper ein, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen – bislang leider ohne auf viel mediales Interesse zu stoßen.

Das Foto wurde von Enno Lenze aufgenommen

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