Zuerst denkt man, das ist jetzt wie Oma besuchen: sich Zeit nehmen, sich auf langatmige Ausführungen und unerhebliche Details einstellen, geduldig sein, sich selber zurücknehmen. Dann sind die ersten 20 Seiten gelesen, es ist nach Mitternacht, man müsste dringend schlafen...und liest weiter. Und weiter. Zum Beispiel über die 74-jährige Marianne Winkler. Wie sie als junge Frau alle Viertausender der Schweiz bestieg, als ginge es um ihr Leben. Als sie alle geschafft hatte, fühlte es sich wohl ein wenig an wie nach der Einführung des Frauenstimmrechts: „Als ich alle Viertausender gemacht hatte, ging etwas zu Ende. Das war eigenartig. Als hätte ich kein Ziel mehr. Ich bin weiter in die Berge gegangen, es fehlten mir ja sonst noch ein paar aussergew
gewöhnliche Gipfel (...). Aber dennoch war etwas vorbei.“Dann kommt die nächste Geschichte, und es wird klar: nichts ist vorbei. Wir haben gerade erst angefangen. „Mit dem Teufel persönlich wäre ich damals wahrscheinlich in die Berge gegangen, wenn er nur auf einer schweren Route vorausgeklettert wäre! Damals hatte es ,Tack!‘ gemacht, und ich war in die Berge verliebt“ (Heidi Schelbert, 74).Seltene PflanzenIn die Berge verliebt. Das ist man nach diesen Geschichten. Das Bietschhorn, der Titlis, der Dom. Die Namen könnten fremder nicht sein. Und doch versetzen die Geschichten einen in einen Zustand, der nichts mit Aufregung, aber ganz viel mit Sorgfalt zu tun hat. Die Frauen machen einen neidisch mit ihrer altbackenen Schwärmerei. Die Verzückung über eine seltene Pflanze, über den Geruch der Hanfseile, über das Geräusch des Eispickels, über die eigene Leistung oder über die Morgenluft: „Als ich das erste Edelweiß sah, kriegte ich Tränen. Ich kam nicht zu ihm hin, aber ich hatte es gesehen, oben im Fels. Stolz saß es da! Und ich dachte: ,Du Chrott (deutsch: Kröte) sitzt da oben, und ich komme nicht an dich ran“ (Charlotte Godel, 100).Es ist nicht nur die Natur-Begeisterung an sich, die betört, auch der Umstand, dass sie für damalige Zeiten vollkommen abstrus war. Die Einheimischen hielten Bergsteiger und insbesondere Bergsteigerinnen für verrückt: Wer Zeit fand, aus purer Freude in den Bergen herumzulaufen, war ein Tagedieb.Aufgeschrieben wurden die Texte zum Buch Früh los – Gespräch mit Bergsteigerinnen über siebzig von Patricia Purtschert. Ihre Porträts inszenieren keine Pointen, keine Kicks, keine Dramen. Purtschert hat den Mut zu erzählen. Ausführlich, eingehend, detailliert. Und nie langweilig. Wie ein Bergaufstieg: Man findet in einen kontinuierlichen Lesefluss, ab und zu eine kleine Atempause, ein Schluck Wasser, dann weiter. Die Geschichten der 13 Frauen (die älteste ist 1908 geboren, die jüngste 1938) sind von einer ganz eigenen Ästhetik. Keine abgedroschene Einfache-Leute-vom-Land-Romantik. Sie sind – auf eine unaufdringliche Art – politisch: „Politisch aktiv war ich nie direkt. Als Bergsteigerin ist man doch anarchistisch!“ (Silvia Metzeltin, 71).Früh los muss doppeldeutig verstanden werden. Einerseits ist es ein Buch über das Bergsteigen. Andererseits sind es Geschichten von Frauen, die auch im historischen Sinne früh los sind. „Sie haben neue Routen eröffnet und Wände zum ersten Mal bestiegen. Alle aber sind auch Pionierinnen im gesellschaftlichen Sinn“, schreibt Purtschert. Die Bergsteigerinnen erzählen von einem vergangenen Jahrhundert, von der Schweiz, von Migrationshintergründen und dem Gefühl, nicht richtig angenommen zu werden, von Beruf, Krieg, Frauenstimmrecht, Freundschaften, Partnerschaften, Ehe und Ledigsein, Kindern und Älterwerden. Es sind Frauen, die Hosen trugen, den ersten Frauen-Alpenclub gründeten, weg gingen von der Familie und Haushaltsverpflichtungen – und sei es auch nur für einen Tag –, die reisten, ausstiegen, sich durchschlugen. „Ich wollte etwas erreichen. Ich war niemand auf der Welt. Einzig im Bergsteigen war das anders. Darum wollte ich schwierige Sachen unternehmen.“ (Silvia Metzeltin, 71).Die Rolle des SportsDie Erfahrungen der Alpinistinnen mit der Männerwelt sind teils motivierend, manchmal aber auch dramatisch: „In unseren ersten Ferien, das war 1956, kletterten wir erst über den Festigrat auf den Dom, stiegen die Normalroute ab und wollten dann aufs Matterhorn. (...) Die Bergführer haben sich unheimlich über uns zwei Mädchen geärgert. Wir haben ihr Renommee gestört. Sie hatten ihren Gästen erzählt, dass das Matterhorn eine schwierige Tour sei (...) und dann kommen da zwei Mädchen an. Der erste Bergführer (...) hängte unsere Sicherungen aus. Immerhin haben sie uns nicht die Seile zerschnitten, wie sie das bei den Frauen gemacht hatten, die eine Generation vor uns unterwegs waren“ (Heidi Schelbert, 74). Die Bergsteigerinnen sind Dinosaurierinnen, die auf den ersten Blick nicht als Role-Model für die kosmopolitischen Alpha-Frauen von heute taugen. Und doch haben sie uns in mindestens einem Punkt etwas ermöglicht: Sport gilt für Frauen nicht mehr als unsittlich.Und dann gibt es Passagen in dem Buch, die so parabelhaft das Leben beschreiben, dass man am liebsten die eigene Großmutter ab sofort jeden Tag besuchen möchte: „Wissen Sie, die Berge haben keinen Beginn und kein Ende: Man kann überall bergsteigen, es gibt keinen Anfang, oder der Anfang ist überall. Und ein Ende gibt es auch nicht. Und am spannendsten ist es sowieso, wenn man sich verläuft...“ (Charlotte Godel, 100).
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