So schön war es der Heidi zumute wie noch nie in ihrem Leben. Sie trank das goldene Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar nichts weiter, als dass es immer so bleiben möge.“ Man muss schon ziemlich abgeklärt sein, um sich da nicht nach einem unbeschwerten Kindheitsfeeling zu sehnen. Der Kinderklassiker Heidi weckt ein diffuses Verlangen nach dem ursprünglichen, echten, das heißt: nach dem nicht-intellektuellen, vor-technologischen, unverdorbenen, naturnahen Leben. Wer die Originalfassung der Schweizerin Johanna Spyri aus dem Jahr 1880 liest, bekommt schnell das Gefühl, es handle sich hier um kulturelle Urszenen, die bis heute Bedeutung haben. Das Buch ist mittlerweile in 50 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft. Gerade läuft eine Neuverfilmung in den Kinos.
Dabei ist die Geschichte alles andere als unschuldig. Hinter der vermeintlich harmlosen Naturkind-Erzählung steckt ein völkischer, zutiefst antimoderner und nicht zuletzt geschlechterstereotyper Gaga-Plot – kein Wunder, dass er ausgerechnet im neo-nationalen, antifeministischen Europa des Jahres 2015 auf viel Beifall stößt.
Krank in der Stadt
Die Handlung ist schnell erzählt. Heidi ist ein unschuldiges Waisenmädchen, das mit fünf Jahren von der Tante zum Großvater, dem Alpöhi, auf die Alp gebracht wird. Wir erfahren, wie das Kind in den Bergen den Zyklus der Natur entdeckt, dem Wind in den Tannen lauscht, das Licht der Berge sieht und eine Beziehung zu den Tieren eingeht. Spyri beschreibt das einfache Leben in reichen Details. Heidi ist ein Kind, das in tiefem Einklang lebt mit sich und der Welt. Irgendwann aber wird sie aus den Schweizer Bergen in die große deutsche Stadt Frankfurt geschickt, sie soll dort in einem wohlhabenden Haus Klara, die im Rollstuhl sitzt, als Freundin „dienen“. Das unverdorbene Naturell Heidi muss nun lesen und schreiben lernen. Die strenge Gouvernante, Fräulein Rottenmeier, tadelt das Kind als primitiv. Die städtische Umgebung und Rottenmeiers Zwangszivilisierung machen Heidi krank und unglücklich.
Nach einer ausführlichen Leidensgeschichte gelingt Heidi die Rückkehr. Und mit ihr beginnt eine Freundschaft zwischen Bergleuten und Städtern, die auf der Alp endlich ihre wahren Sehnsüchte leben können. Der Herr Doktor aus Frankfurt nimmt sich finanziell der Heidi an, zieht sogar in die Nähe, damit das Mädchen ihn eines Tages pflegen kann. Heidi bleibt Zeit ihres Lebens in den Bergen, alles und alle sind am Ende an ihrem rechten Ort.
Was sagt uns diese Geschichte? Heidi ist eine typische weibliche Projektionsfläche – ein Mensch ohne eigene Vorstellungen. Zu einem männlichen Protagonisten würde gehören, das Glück in der Ferne, im Abenteuer oder zumindest in irgendetwas Eigenem zu finden. Heidi dagegen vereint die klassischen Weiblichkeitszuschreibungen des 19. Jahrhunderts, die zwischen Infantilisierung und jungfräulicher Fürsorglichkeit pendelten: Behauptet wurde damals, Frauen hätten den geistigen Status von Kindern oder Tieren. Das Weibliche symbolisierte Körper und Natur, während das Männliche mit Verstand und Geist konnotiert war. Besonders nachhaltig manifestierte sich die Ideologie einer natürlichen Geschlechterordnung in völkischen Weltanschauungen, die den Mann zum soldatisch-kämpferischen Verteidiger des Volkes, die Frau zu dessen Reproduktion stilisierten. Gegenüber dem kriegerischen Mann hatte die Frau den Part einer sakralen Mutter, der Pflege von Tradition, von Heimat und eines warmen Nests.
Heidi widmet am Ende der Geschichte ihr Leben zwei alten Männern, dem Alpöhi und dem Doktor. Der Doktor fragt: „Wenn ich einmal krank und allein bin, willst du dann zu mir kommen und bei mir bleiben?“ Ja, Heidi will das, denn der Doktor ist ihr, wie sie sagt, fast so lieb wie der Alpöhi. Heidi soll nicht mal heiraten, denn der Doktor versichert dem Alpöhi: „Das Kind wird fortan zwei Beschützer in seiner Nähe haben.“ Da soll kein anderer kommen, der Doktor will nämlich „nach bester Einsicht für das Kind sorgen“, und er beansprucht damit seine „Rechte an unserer Heidi“. Es fällt schwer, hier nicht ein pädophiles Element zu erkennen, der Plot funktioniert teils wie ein Nabokov des 19. Jahrhunderts.
Allerdings ist beachtenswert, dass der Fetisch „Alpmädchen“ nicht einem Mann zugeordnet wird, sondern den Männern im Allgemeinen. Heidi soll nicht ihr eigenes, womöglich sexuell selbstbestimmtes Glück finden, ihre Berufung ist die jungfräuliche Pflege der Männer, die Aufrechterhaltung einer „unschuldigen“ Geschlechterharmonie gegen die schlechte Welt.
Es lohnt sich in Erinnerung zu rufen, wann der Roman geschrieben wurde, nämlich in einer Zeit, in der in vielen europäischen Ländern sich eine antimodernistische Endzeitstimmung ausbreitete, die sich gegen den technischen Machbarkeitsoptimismus, gegen Aufklärung und Emanzipation richtete. In Kunst und Literatur blühten Neuromantik und Heimatkunst, völkische Weltanschauungen setzten sich als ästhetische Konzepte durch. Man beklagte den Wertezerfall, die Verwässerung der traditionellen Kultur und der nationalen Identität. Die Schuld am Zerfall gab man unter anderem den Juden, der Industrialisierung, Urbanisierung, Technologisierung – und eben der Frauenemanzipation.
Der plumpe Geißenpeter
Die Heidi-Geschichte macht klar, auf welche Weise Antimodernismus, die Abwehr des Außen, des Fremden und ein bestimmtes Geschlechterideal verknüpft sind. Das Mädchen steht für das, was Theodor W. Adorno „Selbstidentität“ nannte und bei Spyri weiblich konnotiert wird: Gefühl, Denken und Erleben stimmen überein. Heidi kennt keinen Bruch zwischen dem, was ist und dem, was sein sollte. Das Bestehende wird nicht durch die Möglichkeit eines Anders-Seins oder gar eines unbekannten Anderen gestört. Durch die Begegnung mit der modernen Welt wird Heidi nicht verändert, sondern in dem bestätigt, was sie ist. Zwar kann man Spyri, die ihren Roman in Anlehnung an Goethe Heidis Lehr- und Wanderjahre nannte, zugutehalten, dass sie ansatzweise den männlichen Entwicklungsroman für ein weibliches Subjekt adaptiert. Aber Heidi will nichts als zurück. Sie ist nicht auf der Suche, sondern mit sich im Reinen und unhinterfragt heimatbezogen. Das ist schön. Und gemütlich.
Später wird das Mädchen ein großes Bett für die Großmutter vom Geißenpeter bestellen. Heidi ist nicht zuletzt auch eine Art fürsorgliche Therapeutin, die mit ihrer selbstlosen Art anderen hilft, der eigenen Selbstidentität näher zu kommen: dem plumpen, in Armut lebenden Geißenpeter, dessen erblindeter Großmutter, dem missmutigen Alpöhi, den Städtern – und uns Leserinnen und Lesern. Wer Heidi begegnet, besinnt sich auf die eigene verschüttete Fähigkeit, im Einfachen und Natürlichen das Schöne zu sehen. Entfaltet wird die regressive Idee, es gebe so etwas wie einen rundum harmonischen, heilen Urzustand.
Die völkische Kernbotschaft lautet: Weil Kultur und Zivilisation schlecht sind, muss die Natur gut sein. In rechtsnationalen Rhetoriken haben solche Erzählungen bis heute Bestand. Nicht selten wird bei Pegida, der SVP in der Schweiz oder den Wahren Finnen die Vorstellung einer natürlichen, also: vorgesellschaftlichen, vorpolitischen heilen Ordnung beschworen. Daran knüpft sich eine simple Logik: Solange sich das Volk auf diese Ordnung beruft, ist es über alle Zweifel erhaben. Das Volk, so die Vorstellung, ist von Natur aus gut, es wird nur durch die Interessen und Ansprüche von Anderen korrumpiert. Zum Beispiel durch „die Lügenpresse“, „den Staat“ oder „die feministische Gleichmacherei“.
Im Roman war der Alpöhi mal in der Fremde, im Krieg, er habe jemanden umgebracht, munkelt man. Der Alpöhi weiß etwas von der weiten Welt, aber es ist – logisch – nichts Gutes. Die Selbstidentität hat Kratzer bekommen. Heidi bringt sie wieder in Ordnung. Als die Tante das Mädchen gegen seinen Willen nach Frankfurt bringen will, wehrt er sich verbissen. Er will nicht, dass Heidi zur Schule geht: „Nimm das Kind, und verdirb’s!“ Das ist Kulturpessimismus in Reinform: Die Welt ist verdorben und will uns an den Kragen.
Die unbedarfte Mädchenperspektive transportiert die völkischen Elemente so überzeugend, weil sie gerade nicht als ideologisch scharfe Manifestation formuliert sind. Ihre Legitimität beziehen sie aus der Authentizität des liebevollen Mädchens und dessen Verbundenheit mit einem Ort. Das Eigene bei Heidi ist so unhinterfragt gut, dass es den Triumph der Heimat unwiderlegbar macht. Denn Kinderaugen lügen nicht.
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