Verlorene Söhne

Kosovo Frau Qerkezi hatte einen Mann, sie hatte vier Söhne. Die Familie betrieb einen Imbiss. Man lebte. Dann kam der Krieg
Ausgabe 12/2017

Artan startet den Motor und lenkt den Opel Kadett aus der Garage, wie es ihm die Soldaten befehlen. Einer davon kommt ihm bekannt vor. Dragan R. hat früher im Kulturzentrum von Gjakova gearbeitet. Jetzt trägt er eine Uniform und hat ein Maschinengewehr umgehängt. Er befiehlt der Familie, in den Keller zu gehen. Neben seinen drei Brüdern sind da noch seine Mutter Ferdone, der Vater Halim, Verwandte und Nachbarn. Die Soldaten bestellen Schnaps, aber die Qerkezis haben keinen zu Hause. Sie sind Muslime. Die Soldaten feixen: „In eurem Imbiss schenkt ihr doch auch Alkohol aus, warum nicht hier?“ Dann eben Kaffee. Der Soldat, der einen Kaffee mit wenig Zucker bestellt hat, schimpft: „Da ist nicht genug Zucker drin!“ Am Abend müssen alle Männer vortreten. Artans Mutter versteckt den 14 Jahre alten Edmond hinter ihrem Rücken. „Ihr habt doch schon alle!“, fleht sie. Ein Soldat dreht sich um und sagt: „Du hast zehn Minuten, um deine Sachen zu packen und nach Albanien abzuhauen.“

Es ist der 27. März 1999, drei Tage nach dem Beginn der NATO-Bombardements, als Ferdone Qerkezi ihre Familie zum letzten Mal sieht. Auch 18 Jahre nach dem Kosovokrieg bleibt das Schicksal von hunderten Verschleppten und Ermordeten ungeklärt. Das kleine Land in Südosteuropa, das vor neun Jahren seine Unabhängigkeit erklärt hat, strebt eine europäische Zukunft an. Doch die Vergangenheit ist überall. Man trifft kaum eine Familie, die nicht von brennenden Häusern und zerbombten Straßen zu erzählen weiß. Aufgrund des Bosnienkrieges und des Zerfalls der Sowjetunion blieb das, was hier in den 90er Jahren passiert ist, lange im Schatten der internationalen Aufmerksamkeit. Der serbische Ex-Staatschef Slobodan Milošević entmachtete die ehemals autonome Provinz Kosovo durch eine Verfassungsänderung. Albaner wurden aus den Schulen, Universitäten und dem Parlament verbannt. 100.000 Menschen verloren ihren Job. Es gab Diskriminierungen im Alltag, Schikanen auf offener Straße. Der spätere Präsident Ibrahim Rugova wurde zur Galionsfigur einer friedlichen Protestbewegung. Ab 1997 ging der Konflikt in einen Bürgerkrieg zwischen der „Befreiungsarmee-Kosovo“ UÇK und serbischen Sicherheitskräften über.

Versöhnung, Gerechtigkeit

Es kam zu Erschießungen, Massakern, Vergewaltigungen. Obgleich ohne UN-Mandat, griff die NATO ein und bombardierte 78 Tage lang serbische Ziele in Jugoslawien, um einen Völkermord an den Albanern zu verhindern. Beides, Luft- und Bürgerkrieg, trieb 850.000 Menschen in die Flucht. Nach dem Rückzug serbischer Truppen wurde der Kosovo unter UN-Verwaltung gestellt.

Im Kosovo leben nach wie vor Familien, die nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Laut Internationalem Roten Kreuz werden noch immer 1.660 Menschen vermisst. Der Großteil davon sind Kosovo-Albaner. Etwa 500 der Vermissten sind Serben und andere Minderheiten, etwa Roma und Aschkali. „Wir sind vermutlich die Letzten, die versuchen werden, diese Menschen zu finden“, sagt Tarja Formisto. Die finnische Forensikerin arbeitet für die EU-Rechtshilfemission Eulex, die den Kosovo dabei unterstützt, eine funktionierende Justiz aufzubauen. Doch noch immer ist das Land von Korruption zerfressen. Dazu kommen die hohe Arbeitslosigkeit und ein angespannter Dialog mit Serbien, das den Kosovo nach wie vor nicht anerkennt. Dass es bei der Suche nach den Vermissten nicht um Gerechtigkeit, sondern um Politik geht, treibt die Opferfamilien an den Rand der Verzweiflung. Sie fordern: „Keine Versöhnung ohne Gerechtigkeit!“ Der Slogan ist wieder aktuell, nachdem Präsident Hashim Thaçi vergangenen Monat eine Kommission für Wahrheit und Versöhnung angekündigt hat. Das ist auch heikel. Seit 2016 befindet sich in Den Haag der Sitz eines Tribunals, das sich mit Kriegsverbrechen der UÇK beschäftigt und noch in diesem Jahr Anklage gegen albanische Täter erheben könnte, auch gegen Thaçi selbst. Ihm werden organisierte Kriminaliät, Handel mit Organen und Auftragsmorde vorgeworfen. Einem Bericht zufolge waren die Opfer des Organraubs seit den 90er Jahren vorwiegend ethnische Serben und Roma, die von der UÇK aus dem Kosovo nach Albanien entführt und dort nicht selten getötet wurden. Der Gerichtshof rekrutiert sich zwar aus internationalen Richtern, soll aber nach kosovarischem Recht agieren. Seine Ermittlungen erschüttern die lange verbreitete Version von den Freiheitskämpfern der UÇK, die für die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien kämpften, wie sie 2008 unter dem Schutzschirm von NATO und EU ausgerufen wurde.

Die Aufarbeitung ist auch deshalb kompliziert, weil im Kosovo selbst die Haager Gerichtsbarkeit umstritten ist. „Die an der albanischen Bevölkerung verübten Kriegsverbrechen sollten ein Hauptthema im Dialog mit Serbien sein“, sagt Driton Çaushi von der Oppositionspartei Vetëvendosje. Dass Täter nicht vor Gericht gestellt werden, liege einerseits an der korrupten kosovarischen Regierung, andererseits an einer schwachen EU, die nur an kurzfristiger Stabilität interessiert sei. „Derzeit gibt es niemanden, der genug Druck auf Serbien ausübt“, kritisiert Çaushi.

Alles ist noch so, wie es war

Ein Großteil der Knochen liegt längst nicht mehr im Kosovo. Nach dem Motto „No bodies, no crimes“ wurden auf serbischen Befehl hunderte Leichen in Lkw über die Grenze transportiert und in Massengräbern verscharrt. Ein Jahr nach dem Sturz des Milošević-Regimes wurde in einem Vorort von Belgrad ein Massengrab mit 800 Menschen gefunden. Viele der Ermordeten stammten aus Gjakova, einer Stadt im Westen des Kosovo, nahe der albanischen Grenze. Nirgendwo kamen im Konflikt mehr Menschen ums Leben als hier.

Eine kleine Frau mit Strickjacke öffnet die Eingangstüre. Die Haare von Ferdone Qerkezi sind ergraut. Sie hält sich am Geländer fest, während sie nach oben in den zweiten Stock führt. Das Obergeschoss ist unbeheizt. Fast so, als sollten die Räume ohne ihre Söhne jede Wärme verlieren, die sie einmal ausgestrahlt haben. „Meine Kinder hatten viele Träume“, sagt Frau Qerkezi. Armend wollte Geschichtsprofessor werden, Ardian Fußballer. Edmond hatte den weiß-gelben Gürtel in Karate. Ihr Mann war ein talentierter Schneider. Das Hochzeitskleid von Artans Frau entwarf er selbst. „Fünf Jahre hatte ich die Hoffnung, dass sie wieder zurückkommen“, sagt Qerkezi.

Seit ihrem Verschwinden hat die Frau alles so gelassen, wie es einmal war. Auf einer Decke liegt Edmonds Pingpongschläger. Im Schrank hängt der Anzug, den Artan bei seiner Hochzeit trug. Im Nebenzimmer bedecken unzählige Fotos der Familie die Wände. Nur ein verschlossener Schrein in der Ecke trübt die Idylle. Darin hängen mehrere verblichene und zerrissene Lumpen. Im März 2005 bekam Ferdone Qerkezi die Nachricht, dass zwei ihrer Söhne gefunden wurden. Alles, was ihr von ihnen bleibt, sind Knochen und das Gewand, das sie getragen haben. Halim, Armend und Ardian bleiben weiter verschollen. Ferdone Qerkezi kann nicht zur Ruhe kommen.

Gjakova ist eine Stadt, die in kürzester Zeit von einem wichtigen industriellen und akademischen Zentrum unter Tito zum leidtragendsten Ort des Kosovo wurde. Aufgrund der Nähe zu Albanien entwickelte sich die Region zu einer Hochburg der UÇK. Die Bevölkerung musste noch mehr Repressionen erdulden. Als die Familie Qerkezi 1991 ihren eigenen Imbiss eröffnete, gehörten die Schikanen durch serbische Soldaten zum Alltag. „Die Uniformierten kamen in der Mittagspause, brüllten uns an, weil wir kein Serbisch sprachen und gingen oft, ohne zu bezahlen“, erinnert sich Ferdone. Ihr Mann Halim wollte sich nicht provozieren lassen. Jeden Tag trat er an ihren Tisch: „Was wollt ihr essen?“ Sohn Artan, ein gelernter Koch, briet Faschiertes mit Zwiebeln und scharfen Paprika ab. Das Lokal hat die Mutter inzwischen vermietet. Ihr privates Haus ist heute ein Museum, um die Erinnerungen wachzuhalten.

Auf einem Hügel über der Stadt wurde ein eigener Friedhof für die Vermissten von Gjakova angelegt. An einem Nachmittag Ende Februar geht Mimoza Kusari Lila, die Bürgermeisterin der Stadt, von Grab zu Grab. Die Blumensträuße auf den Gräbern sind mit Steinplatten befestigt, damit sie nicht vom Wind davongetragen werden. Halim Qerkezis Grab ist leer, seine Frau hat ein Foto und einen Blumenkranz auf der Marmorplatte niedergelegt. „Als Kind habe ich hier auf den Hügeln gerne meine Ferientage verbracht“, beginnt Kusari Lila, dabei geht ihr Blick über die Plattenbauten der Stadt. Damals hat niemand geahnt, dass Jugoslawien einmal mit einer derartigen Gewaltwelle zerfallen würde. „Nur wenn alles aufgearbeitet ist, können wir Frieden finden“, sagt die Bürgermeisterin.

Franziska Tschinderle ist freie Journalistin in Wien. Die Fotos für diese Reportage stammen von Martin Valentin Fuchs

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