Sophie Scholl wurde geköpft, weil sie das tat, was Jana aus Kassel auch getan hat: protestieren. Die Guillotine macht den Unterschied, das ist doch gar nicht so schwer zu verstehen. Sophie Scholl leistete Widerstand in einer Diktatur, deren Alltag von Anfang an durch Gewalt und Terror geprägt war. Durch willkürliches Handeln Angst und Schrecken zu verbreiten, das war für die „Regierung der nationalen Erhebung“ ein probates Mittel, um die Bevölkerung in einen Zustand permanenter Unsicherheit zu versetzen: Wann bin ich dran? Wann, mit welchem fatalen Satz drohen mir Gefängnis, Folter und KZ? Und das alles in einem scheinbar, vorgeblich legalen Rahmen, denn Protest gegen diese Regierung war nicht nur nicht erwünscht, er war gesetzlich verboten. Das sogenannte Heimtückegesetz von 1933 besagte: „Hochverrat begeht jeder, der sich irgendein Urteil über eine Angelegenheit anmaßt, die der Führer zu entscheiden hat.“ Und das, ganz klar, konnte alles sein.
Janas „Strafe“ hingegen besteht darin, sich mit dem Satz „Ich bin Jana aus Kassel und ich fühle mich wie Sophie Scholl“ bei einer Querdenken-Demo vor aller Augen lächerlich gemacht zu haben, dafür einen Shitstorm über sich ergehen lassen zu müssen; das kann man getrost als eine Strafe bezeichnen, denn es charakterisiert den Shitstorm, dass nicht alle, die sich daran beteiligen, zivilisatorisch geltende Standards der Debattenkultur pflegen. Es hat aber zuletzt genügend Wortmeldungen gegeben – etwa von Gustav Seibt in der SZ –, die klarstellen, Jana durfte und darf gesetzlich gestützt irritierend anmaßende Thesen in die Welt senden, deren groteske Unverhältnismäßigkeit Widerspruch herausfordern. Unsere demokratisch verfasste Gemeinschaft bietet ihr eine Bühne, auf der sie ihren „Wellnesswiderstand“, wie Imre Grimm es spöttisch nennt, unbehelligt auskosten kann, und das spielt hier, um im Bild zu bleiben, eine erhebliche Rolle. Die vorliegende völlig unangebrachte Identifikation mit einer Märtyrerin – Hans und Sophie Scholl sind erklärte Märtyer sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche – findet ganz offensichtlich im historischen Vakuum statt und legt nahe, dass es hier nicht um die historische Person geht. Kommt hier der altbekannte Mechanismus zum Tragen, durch Anlehnung an historische Größe selbst zu wachsen?
Keine Schminktipps
Wer ist da als historische Referenz besser geeignet als die allgegenwärtige Sophie Scholl? Die Weiße Rose ist inzwischen zu einer Marke verkommen, Markenkern Sophie Scholl, deren beispiellose „Nachkriegskarriere“ noch zu untersuchen wäre. Längst geht es nicht mehr um die Geschwister Scholl, Sophie hat ihren Bruder Hans aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt, von den zahlreichen (!) anderen Mitgliedern dieser Widerstandsgruppe oder den vielen anderen mutigen Frauen und Männern, die, ich wiederhole, ihr Leben im Kampf gegen die Diktatur riskiert haben, zu schweigen.
Warum kennen wir sie nicht? Die nur ein Jahr ältere Cato Bontjes van Beek aus Fischerhude, deren anrührende Briefe Hermann Vinke soeben publizierte, die wie Sophie Scholl – die immer noch am besten von Barbara Beuys porträtiert wurde – Flugblätter geschrieben, vervielfältigt und verteilt hat? Die Textilkünstlerin Antje Hasenclever, die erste Frau von Robert Havemann, die Verfolgte bei sich versteckte, weil sie, wie sie später sagt, ein „anständiger Mensch bleiben“ wollte. Die Politikerin und Verlegerin Annedore Leber (#femaleheritage), die, selbst Widerstandskämpferin, durch ihre Arbeit vor allem den Frauen in der frühen Bundesrepublik Demokratie beibringen wollte?
Da müssen wir HistorikerInnen uns wohl auch an die eigene Nase fassen. Geschichte wird vermittelt übers Fernsehen, via Netflix, durch ungezählte historische Romane, über Fiktion also und das höchst erfolgreich. Die Nachfrage nach dem identitätstiftenden Kapital der Geschichte ist unzweifelhaft groß. Die historische Realität aber ist spannend genug, und sie hält viele Beispiele bereit, Vorbilder – auch im Scheitern –, die mir die Frage nach dem „Wer bin ich?“, „Was will ich?“, „Was kann ich?“ beantworten können. Aber es reicht nicht, Sophie Scholl wie eine Influencerin zu imitieren, die wie im vorliegenden Fall zwar keine Schminktipps geben, sondern nur den Auftritt adeln soll. Es geht nicht ohne den historischen Kontext, der uns in sehr guten, finanziell, vor allem personell reichlich ausgestatteten Kindergärten, Schulen, Berufsschulen und Universitäten vermittelt werden muss. Wir brauchen Geschichte! Aber nicht nur sie: Bildung und Erziehung insgesamt müssen endlich einen viel höheren Stellenwert bekommen. Sie dürfen nicht länger Aperçu einer auf Ökonomisierung und rasche Verwertbarkeit aller Lebensbereiche ausgerichteten Politik sein. So verstandene Bildung hieße auch Differenzen zu erkennen und Abstände zu markieren: Sophie Scholl war eine andere.
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