Die Fische der Utopie

Fischwelten, Wortfreudenfeuer Mit "Goulds Buch der Fische" auf Tauchgang in der Tiefsee von Kunst, Leben und Geschichte

Die ganze Welt in einem Buch - kann das sein? Menschen, Tiere, Landschaften und Meer - Ideen, Fantasien, Wirklichkeiten - Leben, Liebe, Brutalität und Tod - Macht, Sklaverei, Rebellion - Mut, Feigheit, Träumerei, Verrat - Witz, Zartheit, Poesie und Ekel - alles mit gleichem Recht neben einander gestellt und dazu die Beschwörung grässlichster wie betörendster Gerüche, vor allem aber Farben, Farben, Farben? Und all das auf vierhunderteinundsechzig Seiten? Mit zauberhaften Fisch-Bildern dazwischen, und der Text, je nach Arbeitsmaterial des Künstlers (Blut, Sepia, Scheiße, Edelstein), in verschiedenen Farben gedruckt? Dies Traum-Buch gibt es wirklich. Es kommt aus Australien und ist der dritte Roman des 41-jährigen Richard Flanagan, ein Roman in zwölf Fischen: Goulds Buch der Fische. Wer es liest, darf sich auf eine wilde, fabulöse, komische und abenteuerliche Kopf-Reise gefasst machen, und danach wird seine Welt anders sein, als er sie vorher sah. Das gilt beileibe nicht nur für die kühle, ungreifbar-schillernde Welt der Fische.

"Ich bin William Buelow Gould, ein Mann mit einer Schlehenseele, grünen Augen, Zahnlücken, zottigen Haaren und einem grimmenden Bauch, und obwohl mit meinen Bildern (...) womöglich noch weniger Staat zu machen ist als mit mir selbst, können Sie sich darauf verlassen, dass ich Ihnen alles zeigen werde, so verrückt, schlecht und hässlich es auch war."

Das kündigt ein Sträfling an, der einmal Billy Bellow hiess, sich dann aber, weil es verheißungsvoller klang, in William Buelow umtaufte und an diesen Namen schließlich noch denjenigen eines seiner beiden Lehrmeister anhängte, den des alten Gould, bei dem Billy einst lernte, Glyzinienranken auf Porzellan zu pinseln. Wie man Weisskopfadler malt, hatte er sich vorher schon in den Sümpfen von Louisiana bei einem Pleitier, Vogelleichen-Arrangeur und Gesellschaftsporträtisten, dem Kreolen Jean-Baboeuf Audubon abgeschaut - der Mann, der da auf Sarah Island, der gefürchtetsten Sträflingsinsel des fünften Kontinents, auf seine Hinrichtung wartet und währenddessen in einer "Salzwasserzelle" bei Hochwasser unter die Zellendecke gespült wird und bei Ebbe wieder auf den nackten Boden sinkt, ist ein Künstler. Einer wider Willen allerdings. Einer, dessen Repertoire zunächst durchaus begrenzt ist, der aber, learning by doing, zwangsläufig schnell dazu lernt: die Kunst, die er im Auftrag seiner Obrigkeit ausübt, bewahrt ihn vor schwerer Sträflingsarbeit. Und tatsächlich bringt Gould es auf wenigstens einem Gebiet zu wahrer Meisterschaft: beim Fische-Malen.

Wie es dahin kommt und wohin seine Lebenskurve - diese "Bahn einer Kanonenkugel, die in eine Kloake einschlug" - ihn am Ende führen wird, das erzählt Goulds Buch der Fische. Genauer gesagt: Richard Flanagan lässt es Gould selbst erzählen, und der macht eine "raue Arbeit mit Seele", aber auch ein "Freudenfeuer aus Worten" daraus. Noch genauer gesagt: Flanagan lässt das von Gould verfasste Buch der Fische von einem Antiquitätenfälscher namens Sid Hammet nacherzählen, der es eines kalten Wintertags in der tasmanischen Hauptstadt Hobart in einem Gerümpelladen im Innern eines alten Fleischschranks entdeckt und bald darauf an einem Bartresen wieder eingebüßt hat. Den Bildern wie der Geschichte verfallen, beschließt Hammet, das Buch aus dem Gedächtnis noch einmal zu schreiben, und er orientiert sich dabei an einem zweiten Buch der Fische, das er in der Allport Library aufgestöbert hat. Auch dies enthält die Fisch-Bildnisse des Sträflings William Buelow Gould, doch die Texte, die in dem gefundenen Buch so hinreißend von den Fischen und ihrem Maler erzählten - diese Texte fehlen.

Dass der Nachschreiber Sid Hammet von Beruf Fälscher und im allgemeinen ein "Verlierer" ist, passt dabei ganz ausgezeichnet. Denn auch William Goulds Profession, die ihn Anfang des 19. Jahrhunderts in England zum ersten Mal vor Gericht brachte, war das Fälschen, seine sozial betrübliche Karriere die eines Verlierers. Und wenn nun ein Fälscher das Lebens-Werk eines Fälschers, das dieser gewissermaßen selbst schon einmal gefälscht hat, seinerseits fälschen muss, indem er es noch einmal erzählt - dann ist das nicht nur ein grandioser Auftakt für dieses Buch der Fische. Der Leser hat damit zugleich auch den ironisch-hintersinnigen, lustvoll umwegigen Gestus des Romans inhaliert. Es liegt nahe, dass dies ein Buch über die Kunst ist, über Literatur wie Malerei. Dass es von Vorstellungen und Ideen handelt, ebenso. Dass diese Ideen jedoch insbesondere in der Strafkolonie Sarah Island eine erschreckend kuriose Gestalt annehmen, macht das Buch der Fische zugleich zu einem Roman über die Entstehung und das Scheitern politischer Utopien.

Denn auf Sarah Island regiert einerseits ein wahnsinniger Kommandant und früherer Häftling, der eine lächelnde goldene Maske trägt und aus diesem Territorium des Schreckens die musterhafte "Nation Nova Venezia" machen will - als selbst ernannter "Großdoge der Südlichen Meere" nimmt er zunehmend eine Ceauscescu-Rolle an. Andererseits verfolgt der nicht minder übergeschnappte Arzt Tobias Achilles Lempriere mit der Vermessung und Kategorisierung von Mensch und Tier die edlen Ziele der Aufklärung (nebst dem persönlichen Ziel, in die Londoner Royal Society aufgenommen zu werden) - Ziele, die hier unweigerlich in biologistischen, mörderischen Rassismus münden. Der Doktor ist es denn auch, der Gould den Auftrag gibt, die vor Sarah Islands Küsten gefangenen exotischen Fische zu malen - im "Igelfisch" porträtiert Gould im folgenden den Arzt, im tückisch lauernden "Drückerfisch" den Kommandanten und im "Sägerochen" dessen Schreiber und Archivar, der Geschichte und Geschicke der Insel derart umdeklariert, dass das Bild einer heiteren Welt-Handelsmacht entsteht, die kein Gefängnis braucht, weil sie selbst das ideale Gefängnis ist.

Der Seite der Unterdrücker und Blutsauger stehen aber natürlich auch positiv-gebrochene Figuren gegenüber: Matt Brady etwa, der Bandit, Träumer und Wunsch-Befreier - hier erscheint er im Bilde des poetischen "Drückerfischs" -, aber auch, ganz besonders, Twopenny Sal, eine entrechtete und verfolgte Schwarze wie Geliebte des Kommandanten und des Malers Gould, die im "gestreiften Kofferfisch" Gestalt annimmt, oder der wissend der Ermordung seines Volkes entgegensehende Tracker Marks, den Gould im "Haubenfisch" porträtiert. Gould selbst findet seine Apotheose im "Seedrachen", in den er sich verwandelt, um der Galgenschlinge zu entschlüpfen. Bis dahin hat man eine kolonialistische Welt im grotesken Wahn der Menschheitsbeglückung erlebt, hat neben den zartesten und schwebendsten auch einer höchst absurden Liebesszene beigewohnt und bei alledem insgesamt gesehen, wie das verbrecherische Unterste sich zuoberst kehrt, wenn Unterwerfung und Regulierung des abweichenden Anderen zur historischen Aufgabe erklärt werden.

Flanagan wäre nicht Australier, wenn er dabei nicht die Auslöschung der Aborigines ins Zentrum rückte. Aber er wäre auch kein Intellektueller, wenn er sich nicht die Selbstüberhöhung der imperialistischen Kretins durch halb- oder missverstandene Korrespondenzen mit europäischen Geistesgrößen wütend-amüsiert vorknöpfte. Vor allem jedoch ist Richard Flanagan Poet, ein fabulierender Kobold. Der traurigen Poesie der Fisch-Bildnisse des Sträflings William Buelow Gould hat er hier eine Individual- und Gesellschaftsgeschichte hinzu erfunden, die als ein Pandaemonium des sich selbst exportierenden Westens ihresgleichen sucht. Er hat Spuk und Scherz getrieben mit Unterdrückern aller Couleur und der Würde der Unterdrückten sein romantisches Herz geöffnet. Doch bringt er es schließlich auch noch zuwege, dass man lesend seine gewohnte Welt verlässt und Teil einer anderen wird: "Mit seiner langen Schnauze berührte der Seedrache die andere Seite der Glasscheibe, gegen die ich mein Gesicht drückte. (...) Stellte er mir Fragen, auf die ich keine Antwort wusste? Oder sagte mir der Seedrache in einer durchsichtigen Mitteilung, jenseits aller Worte: Ich werde du sein?" Der Leser von Goulds Buch der Fische jedenfalls wird zum Fisch werden: frei, fantastisch, beweglich.

Richard Flanagan: Goulds Buch der Fische. Ein Roman in zwölf Fischen. Deutsch von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002, 461 S., 24 EUR

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