Eis von Esche

ORTE DER KINDHEIT Meist war es draußen trübe, und wenn Frau Rosin am Fenster stand, stellte ich mich gern neben sie. »Wie ess alläs flach äss«, sagte sie, nicht zu ...

Meist war es draußen trübe, und wenn Frau Rosin am Fenster stand, stellte ich mich gern neben sie. »Wie ess alläs flach äss«, sagte sie, nicht zu mir. »Unt dunnkäll. Immär dunnkäll. Kannste so weijt seijhn, un dänn seijhste trotzdäm nechts. Ech mach'ss nech seijhn, ech mach'ss nech.« Dann arbeitete sie weiter. Ich sah gern mit Frau Rosin hinaus, obwohl es da eigentlich nichts zu sehen gab, sie hatte recht. Fast immer war der Himmel verhangen, das Gras hinterm Haus hing grau zu Boden. Himmel und Land wurden eins, und hinten floss die Wümme. »Ech well ja nechss jeijsacht hamm«, sagte Frau Rosin und war sich doch, was ihre Beurteilung des Landes anging, mit meiner Großmutter einig. Die konnte plötzlich »flach, flach, flach!« ausrufen und anklagend auf das endlose Land vor der Schleuse weisen. »Nichts fürs Auge, nichts, nichts! Keine Freude, kein Halt. Nichts!«

Frau Rosin und meine Großmutter fanden nichts an diesem Land, sie verabscheuten es und litten darunter. Ich aber hatte kein andres, kannte keins sonst und wollte auch kein anderes haben: mein Wochenendland. Im Frühling und Sommer fuhren wir mit dem Rad aus der Stadt durch Wiesen und Felder, über die Deiche. Ich saß vor dem Lenker auf dem Kindersitz, meine Mutter radelte gegen den Wind, der Hund wetzte sich die Pfoten wund. Im Winter nahmen wir Eisenbahn und Bus, und mir war alles recht, wenn es nur aufs Land ging, in die kleine Wohnung mit dem großen Fenster über Frau Rosin. Frau Rosin war Flüchtling. Das hieß, dass sie unglücklich war und alles selber machen musste. Ihr Sohn Rolfi trug Trachtenanzüge mit Eichenblättern auf den Jackenaufschlägen, ich beneidete ihn. »Alles aus Uniformen«, sagte meine Mutter, »aus dem Krieg.« Krieg war das Schlimmste. Aber ich wollte auch eine bauchige Skihose wie Rolfi, am Knöchel mit einem verstellbaren Bund, je nach Dicke der Socken. So was nähte Frau Rosin, und ich hasste meine Skihose aus rotem Lastex mit Steg. »Die schöne Keilhose«, sagte meine Mutter, als ich vom Schlittschuhlaufen nach Hause kam. Frau Rosin nähte Flicken auf. »Die kannst du jetzt nur noch im Kuhstall anziehen.«

Rolfi stand am Fuß der steilen Treppe und rief leise meinen Namen. »Nuär nech lhaud seijn!«, flüsterte Frau Rosin, »nuär nech stöiren! Lass ma die Fraou, lass die ma in Ruh, Rolfi! Äss ess weijen där Arrbeijd.« Rolfi rief also leise und ich schlich die Stufen hinunter, raus aus dem Haus, rein in Wohlers Kuhstall. »Nooo«, sagte Wohlers, »wedder doa?« »Jau«, sagte ich. Ich lernte Plattdütsch. »Wo geiht Bubi, wat mookt he?« fragte ich. Bubi war mein Lieblingskalb. »Allns kloar«, sagte Wohlers, und dann packte er mich auf den breiten Rücksitz seines Motorrads, und ich presste den Melkschemel an mich, während wir durch die Wiesen brausten. »Hol di fast, Deern«, brüllte Wohlers über die Schulter, und ich brüllte zurück: »Geiht kloar!«

Die Erwachsenen hatten keine Ahnung. Nur Herr Wohlers, der nicht wollte, dass wir ihn »Herr Wohlers« nannten. »Ick bün de Buer, is dat kloar?« »Is kloar«, riefen wir und rannten zur hinteren Stalltür hinaus auf die Wümmewiesen. Die waren voller Kuhfladen und Disteln, und wir liefen barfuß, weil es gesund war. »Es piekt«, sagte ich und wollte nicht weitergehen. Aber Rolfi war stur. »Weiter«, kommandierte er. »Nur bis zur Brücke. Angeln.« Ich wollte aber nicht angeln. »Tierquälerei«, sagte ich, obwohl Rolfi noch nie etwas gefangen hatte mit seinem Weidenzweig, an dem ein Bindfaden befestigt war, an dessen Ende ein dünner rostiger Haken hing. Ich wollte zur Kondito rei Esche und mir eine Kugel Vanilleeis für fünf Pfennig kaufen. »Erst angeln«, sagte Rolfi und lehnte sich übers Brückengeländer, während er den Bindfaden ins Wasser schleuderte. Die Wümme war eher ein Bach. Ihre Ufer waren bis auf ein paar kleine Sandbuchten mit Schilf zugewachsen, und wir sahen von der Holzbrücke in die Strömung. »Wie lange noch?« fragte ich. »Mal sehn«, sagte Rolfi. Ich setzte mich hin und ließ meine Beine durch die Verstrebungen des Geländers baumeln. »Wie lange jetzt noch?« fragte ich. »Zehn Minuten«, sagte Rolfi. Der Bindfaden schwamm auf der Wasseroberfläche, vom Haken oder einem Fisch war nichts zu sehen. »Du fängst sowieso nichts«, sagte ich. »Ich will zu Esche.« »Sei still«, zischte Rolfi. »Die Fische können dich hören.« »Hier gibt's gar keine Fische.« »Wohl! Gestern hab ich sooon Aal gesehn!« Rolfi breitete die Arme aus, der Bindfaden flitschte aus dem Wasser. »Nichts dran«, sagte ich. Rolfi tauchte den Haken wieder ein. »Ich hab zehn Pfennig«, sagte ich und hielt den Groschen hoch. »Eine Kugel für Dich, eine für mich.« Rolfi drückte seinen Bauch ans Geländer und starrte in die Strömung. Ich sah in die Köpfe der Weiden. Dann stand ich auf und ging los. »Na gut«, sagte Rolfi und zog die Angel ein. »Den Aal hol ich mir morgen. Wenn du wieder zu Hause bist!«

Die Dorfstraße war gewölbt wie eine Tonne und bestand aus ungleichen rötlichen Steinen, zwischen denen Gras wuchs. Enorme Eichen standen zu beiden Seiten, und wenn Schützenfest war, lehnten sich die Betrunkenen daran. Im Festzelt konnte ich leise einen weinen hören. »Die Welt ist so schlecht«, schluchzte er. »Ich will nach Hause.« Ich presste mein Ohr an die Plane. Aber da marschierte die Schützenkapelle vorbei, und ich verstand nichts mehr. Es war Sommer, es war heiß. Die Musik dröhnte und pfiff, und die Bauernschuhe platschten im Marschtritt auf das warme Pflaster. Auf der Dorfweide wieherten die Pferde, die die Bauernjungs dort angebunden hatten, weil sie Bier und Schnaps trinken wollten. Einmal hatte meine Mutter in der Schießbude eine Papierblume mit einem Schuss von ihrem Gipsstengel geholt, Schützenfest war das Größte. Wir schleckten Vanilleeis von Esche. Mit der Fußsohle scheuerte ich an einem Mückenstich und wartete, ob ich den Betrunkenen nochmal weinen hörte. Ich konnte nicht finden, dass das ein schlechtes Land war.

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