Hinter der Maske

THOMAS MANN Hermann Kurzkes einfühlsame Biographie über Thomas Manns Lebens-Werk

Was tut ein Hanseat in der Weißwurststadt?« Gute Frage? Zumal dann, wenn der Mann nicht einfach irgendein Hanseat, sondern Sohn eines lübischen Senators ist. Leider aber auch ein dreimaliger Sitzenbleiber, der die Schule, weil weiteres Ausharren offenkundig zwecklos gewesen wäre, im fortgeschrittenen Schüleralter ohne Abitur verlassen hat. Das Gefühl, keine rechte Bildung zu besitzen, unwissend und ungelehrt zu sein, ist umso stärker, da es einen älteren Bruder gibt, den der junge Mann über alles bewundert. Er selbst kommt sich seinem Idol gegenüber wie ein »Plebejer« vor, ein trauriger Spaßmacher und Nichtsnutz, der immer in Gefahr steht, als Blödian »mit dem Bowlendeckel auf dem Kopf« zum Gespött zu werden. Also hantiert er neunmalklug mit den Schriften seiner philosophischen Hausgötter, Nietzsche und Schopenhauer obenan, und bastelt sich eine Lebensphilosophie, in der auch die hanseatische Edel-Abkunst keine unwesentliche Rolle spielt - man verachtet sicherheitshalber erstmal das meiste und hält sich selbst für irgendwie besser als den Rest der Welt. Obwohl Tatsachenbeweise für die eigene Überlegenheit bedauerlicherweise noch längere Zeit fehlen müssen.

Was tut er also in der »Weißwurststadt«, der junge Mann? Er ist vor allem einsam - auch in München will es zuerst nichts Rechtes mit ihm werden. Die Armee verkraftet er nicht, den Bürojob findet er unerträglich, an der Universität hört er zwar bedeutende Dinge, aber was soll er damit anfangen? Das Abitur fehlt ja. Andererseits: Es muß auch nicht sein. Der Senator hat ihm eine Summe hinterlassen, von der er leben kann, ohne arbeiten zu müssen: »Als Kind wollte ich Konditor oder Trambahnschaffner werden. Als ich sah, daß daraus nichts wurde, verzichtete ich überhaupt.« Thomas Mann wurde Künstler.

In seiner Biographie, die dieses Leben als Kunstwerk rekonstruiert, erzählt der Mainzer Germanist Hermann Kurzke »Tommys« schwieriges Werden und Dasein mit einer solch zugewandten Ironie, daß man schwer umhin kann, den verrutschten Großbürger nicht schließlich doch zu mögen. Mindestens aber wird man am Ende seine Lebens-Werk-Leistung ernsthaft bewundern. »Wir hätten dieses Werk nicht«, schreibt Kurzke, »hätte Thomas Mann seinen Leidenschaften für hübsche Kellnerburschen ungehemmten Lauf gelassen.« Auf diesen Prozeß der Sublimierung der ›unordentlichen‹ Triebe und deren Nutzung für »die Errichtung eines treuen Kunstbaus« richtete sich hier die Aufmerksamkeit: das Werk als Verzicht, als Alternative und Ausweg, gegründet auf Thomas Manns bewußte Verdrängung seiner Homosexualität. Denn ein »Bürger« wollte er doch sein und so »der Vaterwelt angehören«.

Das ist, als These, nicht gerade neu. Dem Biographen aber, der sie nicht einfach behaupten, sondern den verwickelten Bewegungsvorgang zwischen Leben und Werk einsichtig machen will, begegnen etliche Schwierigkeiten. Nicht nur an expliziten Belegen wie Tagebüchern und Briefen nämlich ist vieles verloren, anderes wurde von Thomas Mann selbst vernichtet. Und ohnedies ging der ja äußerst diskret mit sich selbst um und zeigte sich in seinen wenigen autobiographischen Äußerungen als gewiefter Umdeuter, als Meister der Maskeraden und der »doppelten Optik«. Was an Selbstzeugnissen von ihm an die Öffentlichkeit kommt, ist nach Kurzke »kühn Bekennerisches für Insider«, die den spezifischen Code und die Anspielungssprache verstehen, ansonsten aber »ehrwürdig Korrektes für Outsider«. Mit anderen Worten: man muß die homosexuelle Botschaft schon hinein- beziehungsweise herauslesen wollen. Manifest ist da nichts, von einigen Tagebuch-Äußerungen einmal abgesehen.

Bleibt also der Rückgriff aufs Werk, eine gefährliche, ja eigentlich streng verbotene Sache. Trennung von Leben und Werk! Das ist ja die goldene Wissenschaftsregel, die der Germanistikprofessor Kurzke natürlich als erster kennt. Und sie hier trotzdem außer Kraft setzt, denn anders kann er nicht aufdecken, was ihn interessiert: »Die Grenze zwischen Fiktion und Wissenschaft soll zwar sichtbar bleiben, wird aber gelegentlich überschritten, im Bewußtsein, daß gerade die Bereiche des Lebens, die ihrer Natur nach keine Dokumente hinterlassen, einer Deutung am dringendsten bedürfen« - »der Leser ist frei, zu folgen oder nicht.« Und meistens folgt er, sogar gern. Denn einerseits ist Hermann Kurzke ein so bestrickend unfrommer Erzähler. Er liebt das Objekt seiner enormen Quellenarbeit ganz ohne Zweifel, aber er hat doch keineswegs die Absicht, den »Zauberer« zu vergötzen.

Um gleich klarzustellen, wo es langgehen soll, fängt Kurzke mit Thomas Manns Horoskop an, und, siehe da: »Thomas Mann hat hier ein bißchen nachgeholfen« - seine Sternenkonstellation ähnelte nicht ganz unauffällig derjenigen Goethes. Denn darum ging es ja doch in diesem Werk-Leben: ganz oben angekommen, als »Goethes Stellvertreter auf Erden«. Darum mußte nun alles werkförmig gebändigt werden, was aus der untadeligen Honoratioren-Existenz herausragen könnte. Darum muß die bürgerliche Ehe sein, mit nicht weniger als sechs Kindern, »auch kein Spaß«. Darum vor allem darf »die Galerie«, die Reihe der geliebten jungen Männer von den Schülerlieben Armin Martens und William Timpe, über den Maler Paul Ehrenberg und den späteren Bewunderer Klaus Heuser bis schließlich zum Hotelkellner Franzl Westermeier, der noch den fast Achtzigjährigen bezaubert, auf keinen Fall zum Leben erwachen. Beziehungsweise, Hermann Kurzke zeigt dies sehr einfühlsam: Ihr Leben hatten sie alle in Thomas Manns Dasein. Sie reizten und bedrohten es mit »Erschütterung«, die »hymnische« Phantasien zur Folge hatte und, wenn es ernst wurde, auch den (natürlich schriftlich verfaßten) Ausruf »Mein Gott!« Ihre eigentliche Existenz führten sie fortan im literarischen Werk. Denn eisern galt die Maxime »Ruhe in allen Souterrains« des Gefühlslebens, und eisern galt nach Thomas Manns persönlicher Philosophie eben auch: »Der Künstler ist keusch.«

Und doch kommen in Kurzkes Biographie neben Disziplin und befremdender Kälte auch die liebenswerten Seiten des »faszinierenden Scheusals« zu ihrem Recht - so etwa wenn der, der nichts so fürchtete, wie als Kretin entlarvt zu werden, auf einem Kostümball vor seinen Kindern im Abendanzug mit einer »Idiotenmaske« erscheint: Man sieht immerhin einen Menschen. Und mit ihm auch ein Stück vergangener Zeit- und Sittengeschichte. »Heute«, schreibt Hermann Kurzke, »brauchte Thomas Mann sich nicht mehr zu verstecken.« Doch seltsam, man kann sich, gerade nach dieser Lektüre, nur schwer vorstellen, daß er's nicht trotzdem tun würde. Um der Kunst willen, natürlich, aber eben doch auch wegen der »Vaterwelt«.

Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München 1999, C.H. Beck Verlag, 650 Seiten, 68 DM

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