Praktisch haut er seine Seele auf den Packtisch

AM 25. OKTOBER WIRD PETER RÜHMKORF SIEBZIG ... und umwindet sie mit buntem Glanzpapier.

Naaa, Sie! Wandeln ja immer noch rum/ wie ein Farbprospekt für die ewige Jugend!" Peter Rühmkorfs Gedichte, von ihm selbst laut gelesen, hatte ich mir immer heftig, deftig, bestimmt nicht leise und ganz bestimmt kalkuliert schamlos vorgetragen vorgestellt: immer tüchtig gegenan jedenfalls gegen den in dunk les Tuch edel gewandeten HanseatInnengeschmack. Genau so wie die Texte selbst eben. Aber da hat sich was. Spätestens seit dieser Gegenwartsmeister aller Dichtungsklassen, -Gattungen und -Epochen des (jetzt erst recht) auslaufenden BRD-Modells, Peter Rühmkorf himself, siebzig wird - ganz genau ist das am 25. Oktober 1999 der Fall -, kann man es nun besser wissen und sollte das auch auf keinen Fall versäumen: ein Rühmkorf-Gedicht wird nämlich, hört man jetzt, eher alltäglich näselnd, eher beiseite gesprochen. Auch sowas: "Ssssssssssst ssssssssssssst!/ Sssssssssssssst! Ssssssssssssst! Reflexionen bis zum Kreischen der Rückkopplung!" Denn da es ja in der Rückkopplung, die Rühmkorfs Gedichte selber sind, immer schon genug knatscht und kreischt, muß der Dichter das im Vortrag nicht auch noch verdoppeln. Es klabastert im Text, nicht aus dem Rezitator.

Seit neuestem also gibt es einen unwiderleglichen empirischen Beweis dafür, dass der Maestro das selber so haben will. Peter Rühmkorf liest Lyrik und Prosa heißt eine wunderbar intelligent komponierte Doppel-CD des Wallstein-Verlags, auf der zu hören ist, wie Peter Rühmkorf selber sich seine Texte gelesen denkt. Die Prosa des autobiographischen Bandes Die Jahre, die ihr kennt (1972) oder die Wende-Tagebücher von 1989 bis 1991, Tabu I, klingen da zwar genau so, wie ich mir das vorgestellt hatte: pointiert, moduliert, die Stimme auch mal - verdeutlichend, empört, ironisierend - erhoben. Gedichte hingegen, von Walter von der Vogelweide bis hin zu Rühmkorfs eigenen neuesten Versen aus dem Band wenn - aber dann, werden eher auf einem Ton vorgetragen: beiläufig so hingesprochen. Woraus man wohl schließen kann: Sie sind das Herzstück - nur keine Wallungen!

Dabei sind Wallungen aller Art ja doch Rühmkorfs genuines Genre, aber das ist natürlich kein Widerspruch. Was in seinen Gedichten als Sonderzuteilung "für eine hochgebildete Schicht von Nervenkranken" hergestellt wird, muß diese besondere Gemütsverfassung ja nicht mehr evozieren, es setzt sie richtigerweise voraus. "Ein gediegenes Zuzweit/ schwer zu dividieren:/ Dr. Je(c)kyll - Mister Hyde". So stellt Rühmkorf in Vers und Zeichnung sich auch selber dar. Denn, wie man in seinem Jubiläumsjahr auch noch lernen darf: dieser Dichter ist ganz nebenbei ein Gelegenheits-Maler und -Zeichner von Graden, und auf dem Dr. Jekyll/Mr. Hyde zugehörigen Bild posiert er ganz groß, im Profil, als Poeta laureatus, ganz Lorbeerkranz und scharfe Nase. Während kleiner, dahinter, eine auffallend Rühmkorf-ähnlich bebrillte Gestalt im Pantherkostüm erscheint (Knöpfe schließen das Bauchfell), die mit dem Fernrohr auf das alter ego, den Poeten späht. Dies beides, signalisiert das einer Dame zugeeignete Blatt, ist bei Peter Rühmkorf immer mit- und zusammen zu denken: der Bebrillte im geknöpften Wüstlingsfell nicht ohne den Bekränzten, der verehrte Dichter nicht ohne das grenzüberschreitende Lustwesen.

Letzteres vor allem führt in Rühmkorfs siebzigstem Jubeljahr ein Bilderband vor Augen, der in verlegerischer Qualität und willentlich hedonistischer Selbstentblößung des Autors unter den Publikationen dieses Herbstes gewiß seinesgleichen sucht. Von mir/ Zu Euch/Für Uns heißt das prächtige bunte Buch mit Rühmkorf-Autographen aller Art, das der Steidl-Verlag seinem Autor in Lust, Liebe und Hingabe zugeeignet hat. Es ist diese Postkarten- und Blättersammlung in der Tat "ein beachtlichter Monte testaccio neben dem vergleichsweise schmalen Gesamtwerk", wie Rühmkorf selbstironisch anmerkt, kommentierte Karten, Zeichnungen, Fotos und Widmungen von Titelblättern aus dem natürlich überhaupt nicht unbeträchtlichen Gesamtwerk von "Leslie Meier" alias "Lüngi", "Lingus", "Lyngi" oder "Onkel Lynx, halb Muselmann, halb Reise-Sphinx" - so des Meisters krude Pseudonyme. Reise-Zeugnisse aus der weiland Sowjetunion, den Immer-noch-USA, aus Australien, Japan, Ägypten, Island oder auch Italien sind es vor allem, daneben aber auch Hotel-Post aus Berlin oder dem "Hotel Maritim" im reizenden Darmstadt. Da sieht man dann beispielsweise eine Karte mit einer Abbildung von Ernst Jünger, dem ein Sittich anmutig und verwundert auf der Schulter hockt, und darunter hat der stets strikt antiautoritäre Dichter notiert: "Hundert Jahre/ und noch alle Haare/ grenzt das nicht/ ans Wunderbare?!" Oder er implantiert einer historischen Postkarte mit lieben Kindlein und einem Heiligen Martin unter der gotisch gehaltenen Aufforderung "Bleibt deutsch und treu" an prominenter Stelle Martin Walsers Kopf, während jemand anderem Martin Heideggers Antlitz in der Umgebung von Meßkirch zur heilsam-freudigen Botschaft gereichen soll. "Hier sieht man Onkel Lyngi in Ekstase/ auf dem Höhepunkt seiner manischen Phase" bekundet ein andermal ein Blatt, das den Dichter verschlungen inmitten von Blattwerk zeigt, mit einer kraß herausstoßenden knallroten Zunge, während auf einem anderen ein Hund und eine Pfeife mit der mahnenden Aufschrift "Cave Cannabum" zu sehen sind oder Fotos P.R. selbst vor italienischen Ortsschildern mit den sprechenden Aufschriften "Onano" und "Castrense" verewigen.

Es sind nicht zuletzt aber auch politisch-sprechende Botschaften, die da in einer Mischform aus Graphik und Text während eines halben Jahrhunderts zusammengekommen sind, und vor allem dokumentieren sie Zueignungen in Freund- beziehungsweise Freund-Feindschaft, die der provozierend immer leicht danebene "Lüngi" an allerhand Herzallerliebste abgesandt hat: an Michael Naura und Paul Kersten, Horst Janssen, Volker Kriegel, Alfred Hrdlicka, an K.D. Wolff und Heinz Ludwig Arnold, an Enzensberger und Staeck, Björn Engholm und Hans Jochen Vogel, Walter Kempowski und Walter Höllerer ("meditiert vor Apfelschalen"), an Peter Wapnewski, Marcel Reich-Ranicki und die Rundfunkredakteurin Gisela Lindemann. Neben Freundschaftssignalen sind diese Blätter und Karten aber fast immer auch Zeugnisse einer obessiven Existenz - Rühmkorfs gezeichnetes Signet ist die gespitzte Feder, die, geflügelt, das Schreibgerät wie den Phallus (nebst prächtigsten Hoden natürlich) incorporiert. Das macht dann auf die Dauer allerdings auch schon ein bißchen müde, immer wieder Schwanz und Fotze, Fotze und Schwanz betrachten zu sollen (so wunder-wunder-schön sie alle hier zweifellos auch immer wieder gezeichnet sind), und man beginnt sich zu fragen: Was treibt ihn denn eigentlich sonst noch um, den "Onkel Lynx", außer dem gewesenen und bleiben sollenden sozialistischen Projekt und der - im Alter - mehr und mehr wohl eher quälenden Schwanzes-Lust? Gibt es da denn wirklich gar nichts als "Castrano" und "Onano" (nebst sogenannten geistigen Getränken und Cannabis)?

Natürlich ist so eine Frage nach diesem hinreißend schön gemachten Jubiläums-Bild-Band aber auch sehr ungerecht - nur eben, dass man sich jenseits von Flasche, Pfeife und knilleknallerotem weiblichem Geschlecht eben auch mal wieder nach anderem Material sehnt. Aber das gibt es, gemach, gemach, zu diesem Siebzigsten ja auch noch - der extrafleißige Jubilar hat auch hier vorgesorgt und alle seine Verlage waren offenbar gern dabei. Denn was schon das Ton-Dokument teilweise enthält, beinhaltet auch ein edel gedruckter "Sudelbuch"-Band des Wallstein-Verlags, der zum Geburtstag zusätzlich Peter Rühmkorfs Göttinger Poetik-Vorlesung Wo ich gelernt habe in gedruckter Form veröffentlicht. Die literarische Ahnenreihe dieses Sprachjong leurs war ja eigentlich niemals allzu rätselhaft. Die Reimschule durch Kinderverse - "Fünf Minuten vor dem Anfang der Welt/ ging ich durch ein Kartoffelfeld" -, durch Benns, Brechts, Ringelnatz', Kästners, Tucholskis, Mehrings, aber auch Gryphius', Bellmans, Klopstocks, Heines, Whitmans und Majakowskijs Arbeiten war in Rühmkorfs eigener Poesie ja eigentlich immer offenkundig: seine "Judenschule" nennt er sie, in Anspielung auf die finsteren Zeiten, in denen der Junge sich für Literatur zu interessieren begann. Nun aber fügt er dem noch einen biographischen Hinweis hinzu, der auf den Ursprung seines phänomenalen Reimzwangs zielt. Denn offenkundig war es die Mutter, die dem unehelichen, listigerweise dann dem evangelischen Theologen Karl Barth als Patenkind anvertrauten Peter Rühmkorf das Dichten als Reim-Kunst beibrachte. "Ein richtiges Gedicht hatte gereimt zu sein", lernte das Kind aus den virtuosen Gelegenheitspoemen der Mutter. Und sie war auch verantwortlich dafür, "daß das Kind schon früh ganz zirzensische Nummern in Gedichten zu erkennen meinte. Sie dienten nachweislich dem öffentlichen Pläsier": ein Schlüssel zu Rühmkorfs Künsten. Wie sehr auch die heroische Nazi-Lyrik den Jugendlichen unvermeidlich prägte - diese Mutter, die als Mitglied der "Bekennenden Kirche" die "Deutschen Christen" der NS-Kirche bei Gelegenheit daran erinnerte, dass "Jesus Christus ein Jude war", hat mit ihrem "Protestgeist des Protestantismus" den Urgrund für "Lüngis" nonkonformistische Abschweifungen im Poetischen wie Politischen gelegt und könnte heute mit den verbalen Drahtseilakten und Luftnummern des Sohnes nur hoch zufrieden sein.

"In diesem Poesie-Album/ da geht ein Poesie-Alb um", steht auf einem Blatt aus dem "Hotel Savigny" in Berlin. Das liegt nun schon lange zurück und gilt doch immer noch: Von "ungeniert hingeschlenkerten Capriccios" spricht, leicht geniert, der Klappentext zu Rühmkorfs jüngstem Lyrik-Band, von "scheinbar kinderleichten Bagatellen", und das meint doch letztlich nur: der Mann macht immer noch Unerwartetes, literarisch wie politisch nach wie vor Inkommensurables. Was den meisten ganz und gar nicht geheuer ist, und zu recht. "Praktisch/ Haut er seine Seele auf den Packtisch/ und umwindet sie mit buntem Glanzpapier" - so heißt es im Eingangsgedicht des Gedichtbandes wenn - aber dann. Na klar: "Das ist der Au!-,/ der Augenblick der schmerzt", "Ausrufezeichen!/ Ploing!", "Ei!gentlich/ d.h. ab ovo,/ ist die Welt nur halbwegs nuovo", oder auch: "die Verkennung der Welt als beschützende Werkstätte/ das ist es doch wohl,/ was zu den meisten Betriebsunfällen führt" - solche Verse lassen Peter Rühmkorf natürlich viel eher als den schamlosen Bonmot-Crack erscheinen, denn als den poeta doctus dieser bekanntlich in allem so sehr gelehrten Republik.

Vor zwanzig Jahren veröffentlichte er einen Lyrikband, der den Titel Haltbar bis 1999 trug und ganz und gar ernst gemeint war. 1979 nämlich wurde Peter Rühmkorf fünfzig und wollte der Nachwelt vorsorglich etwas überliefern, das mindestens kurz bis vor dem Wechsel in ein neues Jahrtausend gültig bleiben sollte: ein Orakel, eine persönliche Flaschenpost. Wer die heute noch einmal entkorkt, liest darin Texte, die immer noch ganz aktuell zu sein scheinen, und das würde den Jubliar ja nun doch endgültig freuen. Denn es zeigt: seine immer voll abgedrehte Botschaft aus der Flasche (Pfeife, Tablettendose etc.) hat an Substanz nicht nur nichts eingebüßt, sondern immer noch gewonnen. Eine der Botschaften darin lautet: "BRÜDER!/ ne Boje übern Traum und einem Wimpel/ vors Abflußloch gesetzt -/ Hier wolln wir noch öfter zugrund gehn!" Und da kann man nur sagen: Ja, allerdings, das wollen wir! Und wünschen uns daher, lustig und lüstern durch so viele Verse, Texte, Stimmen, Bilder, nun selber was zu seinem Geburtstag: "Morgen komm wieder/ Lies mir was Großes vor Schönes./ Aus der besseren Welt." Aus dem Rühmkorf-Kosmos, heißt das, haltbar mindestens bis 2099.

Peter Rühmkorf: Wenn - aber dann. Vorletzte Gedichte. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999, 128 S., 36.- DM

Peter Rühmkorf: Wo ich gelernt habe. Göttinger Sudelblätter, Wallstein Verlag, Göttingen 1999, 48 S., 24.- DM

Peter Rühmkorf: Von mir, zu euch, für uns. Steidl-Verlag, Göttingen 1999, 216 S., 58.- DM

Peter Rühmkorf: Peter Rühmkorf liest Lyrik und Prosa. 2 CDs, Wallstein Verlag, Göttingen 1999, Laufzeit 142 Minuten, 39.- DM

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden