Nehmen wir den Film Drive, der im Jahr 2011 in Cannes Premiere hatte. „Elegisch“, „hypnotisch“, „obsessiv“, „cool“, „fiebrig“, „unwiderstehlich“ – die Lobeshymnen brausten hier zu wahren Begeisterungsstürmen auf. Ein Hype war geboren. In diesem Fall sogar ein sympathischer. Denn der Regisseur Nicolas Winding Refn hatte da eine betörend langsame Hommage an die Action-Filme der achtziger Jahre geliefert.
Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich seinerzeit im Internet Fotos und Collagen von Drive-Hauptdarsteller Ryan Gosling in seiner silbernen Jacke mit dem Skorpion auf dem Rücken. Eine solche Wahrnehmung – stärker über die Materialität als über die Bedeutung – ist für die Kinoerfahrung wichtig. In der kritischen Rezeption kommt sie fast immer zu kurz. Drive ist nur ein Beispiel für eine positive Deutung von Hypes als ein „Jenseits“ der Sprache, als körperliche Resonanz, im besten Fall als Euphorie, von der wir uns gerne anstecken lassen. Bald ist ein Kult geboren. Offensichtlich sind Hypes mehr als marktschreierische Werbekampagnen, sie treffen auf ein Gegenüber, das die Botschaft nicht nur schluckt, sondern weiterträgt. Ein Phänomen, auf das viele, gerade kleinere Filme, in Zeiten gesellschaftlicher Fragmentierung angewiesen sind.
Wer mag Tarantino nicht?
Hypes sind wirkungsvoll, auf einer affektiven und auf einer ethischen Ebene. Das Spezifische am Hype ist nicht der Medienrummel, die künstlich gesteigerte Aufmerksamkeit, die Einigkeit, mit der über die Relevanz eines Films diskutiert wird. Das Spezifische ist vielmehr die mit ihm verbundene Handlungsanweisung. Ein Hype ist die Verwandlung eines Kann oder Soll in ein Muss. Selbst der Versuch, sich dem Hype zu entziehen, stellt immer schon eine aktive Handlung dar. Der Hype scheint also etwas Mächtiges zu sein, zu dem wir uns verhalten müssen. Der Hype hat etwas Autoritäres an sich.
Auch bei einer sinnlichen Interpretation seiner Wirkung darf nicht unterschlagen werden, dass selbst eine so begründete Form von Hype wie bei Drive die Gefahr des Antiintellektualismus birgt. Man denke an die Rezeption von Quentin Tarantino: Verbietet es sich nicht geradezu, gegen dessen Werk etwas einzuwenden, weil man sich damit als Feind der Lust outet?
In seinem Gestus sollte uns der Hype daher grundsätzlich suspekt sein, zumindest wenn Werte der Aufklärung wie Vernunft, Wissen und Selbstbestimmung eine Rolle spielen sollen. Zum Autoritären kommt seine affirmative Natur hinzu, die nicht zufällig der von Werbung entspricht.
Aber Hype ist nicht gleich Hype. Da gibt es etwa jenen, der als Teil eines sinnstiftenden Diskurses daherkommt. Die Batman-Trilogie von Christopher Nolan und insbesondere deren zweiter Teil, der 2008 erschienene The Dark Knight, könnten hierfür symptomatisch sein. Beim Kinostart kamen viele Dinge zusammen, die zur Erklärung des Hypes taugen: Heath Ledger, der den Joker spielte, wurde noch vor der Premiere des Films tot in seiner New Yorker Wohnung gefunden. Regisseur Nolan ist ein Autorenfilmer, der im Blockbusterkino gefeiert wird. Und die Comic-Grundlage des Films und das Superheldengenre, das sich als eskapistisches Ventil und als Spiegel von Sehnsüchten anbietet, taten das Übrige. Tatsächlich verstärkten Nolans drei Batman-Filme eine Stimmung der von 9/11 geprägten Gesellschaft, sie trafen den Zeitgeist. Sie machen sich damit gleichsam unangreifbar. Auf jede Kritik an The Dark Knight und dem 2012 erschienenen The Dark Knight Rises reagierten die Fans voller Wut und Aggression. Der US-amerikanische Kritikerspiegel RottenTomatoes.com sah sich schließlich genötigt, die Kommentarfunktion abzuschalten. Dabei hatten die meisten der Fans, die sich zum Kritiker-Bashing versammelten, den Film selber noch gar nicht gesehen.
Der Hype als Beitrag zu einem Diskurs muss scheitern. Denn ein Diskurs braucht Haltungen und Positionen, der Hype setzt sich viral, kraftvoll durch. In diesem Sinne ist der Hype Gift: Gift für die Kritik, Gift für die Ratio, Gift für die Diskussion und überhaupt für jede gesellschaftliche, respektvolle Auseinandersetzung mit verschiedenen Positionen. Denn der Hype ist totalitär.
Neben dem Hype, der über Kritik hinausgeht, und neben dem, der sich gegen die Kritik wendet, gibt es noch den Hype, der von der Kritik ausgeht, in dem sich die Kritik selbst feiern kann – den Hype des guten, respektablen Geschmacks oder präziser: des klaren, unverstellten Blicks auf das einzig Wahre und Schöne.
In einer postideologischen Zeit scheinen ästhetische Kategorien obsolet zu werden. Woran kann man sich also noch halten in der Kunst, wenn man nach Orientierung sucht? Die Antwort ist einfach, auch das Festival von Cannes hat sie wieder gegeben (Freitag vom 29. Mai): Im Zweifel rettet der „große Autor“ das Kino.
Beispiele aus dem Jahr 2012 dafür wären Christian Petzold und Michael Haneke. Beide genießen seit geraumer Zeit hohes Ansehen unter Kritikern, und doch hat sich noch einmal etwas verändert in ihrer Rezeption, ganz so, als führe nun nichts mehr an beiden vorbei: Mit Barbara (Petzold) und Liebe (Haneke) hat sich die Anerkennung beider Filmemacher potenziert, sie erreichen Zuschauerschichten jenseits von Filmliebhabern, während abweichende Meinungen in der Öffentlichkeit fast verstummt sind.
Und wer hasst Haneke?
Wo üblicherweise mit dem Publikumserfolg die Diskussion über derart eigenwillige Regisseure erst richtig in Fahrt kommt, ist die Stimmung hier in einheitliche Ehrfurcht gekippt. Wer Hanekes Liebe nicht liebt, hat ein Problem. Oder um es mit der französischen Zeitung Libération zu sagen: „Wer beim Sehen von Liebe keine Träne vergießt, kann vernünftigerweise als Arsch bezeichnet werden.“ Hier tritt vehement das Autoritäre des Hypes in Erscheinung.
Ist es ein Zufall, dass sich dieses Urteil bei einem Filmemacher wie Haneke formuliert, den man getrost autoritär nennen darf? Gibt es einen richtigen Film im falschen Hype? Der Hype rührt an ethische Fragen: Um uns gegen die Einschüchterung und Verengung von Diskursen durch Hypes wehren zu können, müssen wir deren Entstehung nachvollziehen. Wenn wir beim Bild vom Hype als Virus bleiben, dann suchen wir nach Keimzellen. Derer kann es viele geben: Filmemacher, Festivaldirektoren, Verleiher, Kinobetreiber, Presseagenten, Politiker oder Kritiker. Damit ein Hype entsteht, müssen unterschiedliche Leute, die je eigene Agenden verfolgen, aktiv werden. Man kann also von einer Kollaboration ohne inhaltlichen Konsens sprechen. Gerade weil niemand vor den falschen Karren gespannt werden will, ist der Hype davon abhängig, dass der Sender diffus bleibt.
Zum Hype gehört eine zutiefst verunsichernde Form von Unbestimmtheit. Er ist Schwarzes Loch und Sonne zugleich: Er saugt in sich auf und strahlt gleichzeitig aus. „Alle“ reden über einen Film. „Jeder“ empfiehlt ihn. Wer wird etwas gegen das Spiel von Heath Ledger sagen? Hinter den Floskeln unfehlbarer Bewertung kann man sich gut verstecken. Die Sehnsucht nach Übereinstimmung mit den Meinungen anderer ist ungebrochen.
Selbst wenn Hypes medial absichtsvoll als Kampagnen lanciert werden sollen, lassen sie sich nie schlüssig als Absprache zwischen konkurrierenden Publikationen erklären – sie müssen instinktiv relevant erscheinen. Eher noch handelt es sich um einen halbbewussten Prozess des Mitläufertums. Das Event „darf“ niemand verpassen, der Redakteur muss den Chefs, dem Leser gegenüber simulieren, das Ereignis mit geschaffen zu haben. Ist der Hype für die Meinungsmacher von gestern ein letztes Aufbäumen gegen den Verlust ihrer früheren Macht? Kritiker nehmen das Gift des Hypes in Kauf, um sich selbst den Anschein von Autorität zu verleihen.
Die großen Medien, die für sich gesellschaftliche Deutungshoheit beanspruchen, sind bereits aus der Wahrnehmung eines großen Teils des Publikums verbannt. Stichwort Filter-Blase.
Vielleicht lassen sich Hypes also positiv als Verbindung zwischen den verschiedenen Blasen begreifen, als letzte Chance, Kultur als gesellschaftliches Moment zu retten. Ermöglichen Hypes um den Preis suspekter Einigkeit dem Film eine gesellschaftliche Bedeutung, die er sonst nur als Wirtschaftsgut hat? Es klingt verlockend: Lasst uns wieder auf den Film zählen, nicht nur mit ihm rechnen.
Frédéric Jaeger ist Chefredakteur des Online-Filmmagazins critic.de und Geschäftsführer des Verbands der deutschen Filmkritik
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