Digital ist später

Fensterputz Erst Kino, dann DVD, danach der Rest: Bei der Auswertung von Filmen folgt die Branche immer noch einer seltsamen, veralteten Logik
Ausgabe 19/2014

Experimente werden abgesagt. Im September soll die Streaming-Plattform Netflix in Deutschland starten – und die hiesige Kinobranche wartet ab. 15 Jahre nachdem der Musikvertrieb von der digitalen Revolution erfasst wurde, reagieren Kinobetreiber und Filmverleiher mit den gleichen Abwehrreflexen wie einst die Plattenfirmen.

So verhinderte jüngst der Widerstand des Verbands der Programmkinos, der AG Kino-Gilde, einen simultanen Kino- und Video-on-Demand-Start des Films Love Steaks, an dem die Kinobetreiber selbst verdient hätten. Eine Firma aus der Musikbranche hatte mit den Produzenten des Festivalhits, der ohne Filmförderung und Beteiligung von Fernsehsendern entstanden war, ein Konzept erarbeitet, für das sie 20 Kinos gewonnen hatten. Die Idee: Die Kinos sollten auf ihren Webseiten selbst den kostenpflichtigen Stream anbieten. Kurz bevor die Aktion bekannt gegeben werden sollte, setzten sich die konservativen Kräfte im Verband durch. Kein gutes Omen für die Bereitschaft einer Branche, neue Vertriebswege zu suchen.

Ein Spalt in der Wand kann mit etwas Chuzpe durchaus als Fenster verkauft werden, wenn nur der Raum zuvor komplett dunkel war. In Deutschland, wo bei der Filmverbreitung bislang wenig auf heavy user gesetzt wurde – obwohl sie für das Arthousekino laut Studie der Filmförderungsanstalt immer wichtiger werden –, kam die Branche erstaunlich lange damit durch. Der späte und teure Zugang zu einem stark eingeschränkten Feld an Filmen und Sprachfassungen wurde und wird nämlich als Vielfalt argumentiert.

Das gilt schon lange fürs Kino und mit Abstrichen auch für DVDs, im Free-TV ist die Lage ohnehin katastrophal, und es stimmt aktuell für Video-on-Demand (VoD), wo kaum Filmgeschichte und nur wenige aktuelle Filme verfügbar sind.

Diese Verknappung, also die eindimensionale Angst, dass der Stream von Love Steaks die Leute vom Kinogang abhält, hat durchaus Tradition. Damit das Kino seinen Rang als Fenster zur Welt nicht einbüßt, hat es seit dem Aufkommen des Fernsehens Bestrebungen gegeben, das Angebot kleinzuhalten – mit zum Teil drastischen Mitteln. In Frankreich ist es etwa frei empfangbaren Fernsehsendern verboten, an den drei Ausgeh-Abenden Mittwoch, Freitag und Samstag Spielfilme zu zeigen.

Globale Konkurrenz

Eine vergleichbare Unterstützung für das Kino als Institution und kulturelle Praxis gibt es in Deutschland nicht. Hierzulande wird „Fenster“ anders diskutiert: die Reglementierung der Veröffentlichungszeitpunkte von Filmen auf DVD und Blu-Ray, im Fernsehen und als Stream. Also Ökonomie. Hinter sogenannten Auswertungsfenstern steht die Logik der Kaskade: Die Einnahmen, die im ersten Fenster (Kino) erzielt werden, sollen sich im nächsten (DVD) fortsetzen. Also wird die zeitnahe Verfügbarkeit von Filmen auf anderen Trägern verschleppt, die Ressource verknappt, damit mehr Zuschauer das einzelne Werk auch im Kino sehen.

Eine solche Argumentation stellt den teuer produzierten und in Deutschland selten profitablen Kinospielfilm ins Zentrum – und nicht das Gesamtangebot, nicht die Vielfalt, nicht das Arthousekino und auch nicht den Zuschauer. Das merken heutzutage viele, weil die Zeiten in abgedunkelten nationalen Räumen vorbei sind: Das Internet ermöglicht den Vergleich mit einem tendenziell globalen Markt des illegalen und halblegalen Zugangs zu Filmen, die online betrachtet werden können.

Um zu erklären, wieso bislang nur mit der richtigen, also der amerikanischen IP-Adresse ein Abonnement von US-amerikanischen VoD-Diensten wie Netflix möglich ist, müsste man weit ausholen. Dahinter steckt die Idee nationaler Grenzen für Lizenzen. Um Gewinne zu maximieren oder auch nur Investitionen wieder reinzuholen, aber auch um das jeweilige Publikum am besten zu erreichen, gilt eine Aufsplittung der Welt in viele Territorien als unumgänglich.

So kaufen meist nationale Firmen die exklusive Erlaubnis, für einen bestimmten Zeitraum einen Film auszuwerten – mittlerweile auch trägerlos, also als Stream. Das ist nicht unwichtig, denn digitale Dateien sträuben sich gegen exklusive Lizenzen. Die Europäische Kommission möchte die digitale Distribution naheliegenderweise stärken.

Nur weiß keiner, wie sich ein europäischer Binnenmarkt für Kulturprodukte auswirken würde. Es steht zu befürchten, dass die in Deutschland bereits fortgeschrittene Mainstreamisierung der angebotenen Werke im Programmkinosegment weiter Aufwind bekäme. Das Prinzip Abonnement, mit dem Abrufdienste und Bezahlsender an Bedeutung gewonnen haben, ließe dagegen hoffen, dass das Publikum ernster genommen wird.

Schade ist, dass die Kinobranche das Feld Fernsehsendern und Internetfirmen überlässt. Denn Netflix wird hierzulande quasi synonym durch die Eigenproduktion House of Cards wahrgenommen, die gewiefte, aber alles andere als revolutionäre Adaption einer britischen Serie – als wäre sie der Heilsbringer für das Bewegtbild. Um Dominik Graf zu zitieren: Wir waren schon einmal wesentlich weiter.

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