Das Klo in Laufweite

Polen Das Buch „Minigolf Paradiso“ von Alexandra Tabor lässt eine Kleinstadtjugend in den 90er Jahren aufleben
Ausgabe 39/2016

Die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind jetzt schon eine Fußnotendekade; jenes im Großen und Ganzen vernachlässigenswerte Jahrzehnt zwischen Mauerfall und 11. September, ein kurzer Abschnitt, in dem tatsächlich an ein Ende der Geschichte geglaubt wurde. Die Zukunft war ein undefinierbarer Brei. Recht wenige wussten vom Internet, noch weniger vom Nahen Osten.

Die 90er sind Malinas Zeit, vor allem der Sommer 1997. Sie ist eine 16-jährige graue Maus, als die großen Ferien beginnen, und eine ebenso alte kleine Persönlichkeit, als sie enden. Während der paar dazwischenliegenden Wochen macht sie ihren totgeglaubten Großvater – einen kleinkriminellen, liebenswert erfolglosen Tausendsassa und Tagträumer – ausfindig, bugsiert ihn zur abgeschieden in Polen lebenden Großmutter, lässt beide sich miteinander aussöhnen – möglichst theatralisch, versteht sich. Und erfindet dabei ihre ganz persönliche Geschichte.

Der Verlag hat Minigolf Paradiso eine „Road Novel“ genannt, andere haben von deutsch-polnischer Integrationsliteratur gesprochen. Beides stimmt, und doch fehlt etwas Spezifisches: Dieses Buch ist ein akribisches, detailversessenes Panorama einer Kleinstadtjugend in den 90ern. Wie in einem Wimmelbild ploppen immer wieder Elemente einer untergegangenen Jugendkultur auf, die auch deswegen so wenig Strahlkraft entwickelte, weil sie so sehr auf den Schein bedacht war. „Das ist echt mal ’ne Stadt“, heißt es über Krakau, „was man schon daran erkennt, dass die Werbetafeln zehnmal größer sind als auf dem Dorf.“ Die Kirchen der 90er sind Billboards gewesen.

Alexandra Tobor, die 1981 geboren wurde und mit acht Jahren als Spätaussiedlerin nach Deutschland kam, meint es ernst mit der 90er-Nostalgie. Auf silenttiffy.de bietet sie sogar ein „Betreutes Lesen“ an, wo die vielen Referenzen aufgeschlüsselt und erklärt werden; es ist weniger ein Glossar als vielmehr ein Ausstellungskatalog zum Roman, den man auch als Buch gewordenes Popmuseum verstehen kann.

Barocker Pop

Diese Welt der 90er ist ein Scheidepunkt, ein Zeitalter des Verfalls. Das gilt nicht nur für den Pop, sondern auch für die Welt der Kleinbürger mit ihren kleinen, unspektakulären Träumen. Einer, der diesen Träumen ein Leben lang nachhechelte, ist Malinas Großvater Aldi, der vor Jahren seinen Tod vortäuschte, um von Polen nach Deutschland auszuwandern und es da zu etwas zu bringen.

Daraus ist nichts geworden, inzwischen lebt er auf einem Minigolfplatz; tagsüber verkauft er Lose auf dem Rummel; statt am bundesdeutschen Wohlstandstraum teilzuhaben, ist er zum Arbeiter in der bieder-eskapistischen Naherholungsmaschine geworden. Er selbst träumt davon, einen Minigolfplatz mit allen Sehenswürdigkeiten der Erde auszustatten, an jedem Loch ein anderes Wunder en miniature. So sieht er aus, der ideale Ort der kleinen Leute: die Wunder der Welt, aber in Übersichtlich und in Laufweite ein Klo.

Alexandra Tobors Stil ist geprägt von einer Lust an kruden Formulierungen, an assoziationsreichen Worten und klangvollen Wendungen, ohne je in einen bedeutungsschwangeren Tonfall zu geraten. Sie schreibt eine Art barocken Pop, der vorzüglich zu dieser Scheinwelt der 90er passt. Eine liebevollere Chronistin kann sich diese Zeit kaum wünschen. Am Ende der Reise treffen die beiden die Großmutter, die als weise Frau auf dem Dorf wohnt und den Leuten hilft. Sie wird den beiden nach Deutschland folgen, Aldi wird am Ende seinen Minigolfplatz „Garten der Lüste“ nennen und nach der Bilderwelt Hieronymus Boschs gestalten, Malina wird das Internet entdecken und aus ihrer Isolation heraustreten. Es ist ein versöhnliches Ende.

So liebevoll Alexandra Tobor mit den 90ern umgeht, so verfährt sie auch mit ihren Figuren. „Du hast gelogen, um deinem Leben Glanz zu verleihen“, sagt Malina zum Ende hin ihrem Großvater. „Das spricht für einen exzellenten Charakter.“ Klingt wie etwas, das man den 90ern nachrufen wollte.

info

Minigolf Paradiso Alexandra Tobor Rowohlt Taschenbuch 2016, 256 S., 9,99 €

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